Chronik der Gefühle

Stefan Slupetzky

Foto: ©Julia Maetzel

[WINA - DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN | August+September 2016]

Stefan Slupetzky widmet sich als Wanderer zwischen den Welten in seinem neuen Buch der Aufzeichnung von Existenziellem.

Von Paul Divjak

Auf eine literarische Erzählzeit von zwei Tagen verdichtet Stefan Slupetzky in seinem neuen Buch „Der letzte große Trost“ eine Familiengeschichte, in die sich die Zeitgeschichte eingeschrieben hat, als gälte es, den NS-Wahnsinn pars pro toto in der „Keimzelle des Staates“ auf den Punkt zu bringen: Galt doch die Liebe der jüdischen Großmutter einst ausgerechnet dem Spross aus dem Linzer Clan, der Zyklon-B hergestellt hat. Und das Enkelkind erzählt die Geschichte.

Vor dem Hintergrund von Ermordung, Exodus und einem Landhaus in Klosterneuburg entfaltet sich die Narration als Entwicklungsroman im besten Sinne, – alles da: die (symbolische) Reise des Protagonisten, die Suche nach der Wahrheit und die Läuterung. (Maßgeblich ermöglicht durch die liebende Frau, die dem romantischen Helden auf seinem physischen und psychischen (Irr-)Weg zur Seite steht.)

Gerne folgt man als Leser den Ausführungen des Autors, begleitet die Reflektionen des Protagonisten, nimmt an der Lebensgeschichte Anteil und taucht ein in einen Text, der Erinnerung auslotet und von (inhaltlichen, formalen und stilistischen) Brüchen durchsetzt ist. Aber so funktioniert Erinnern nun mal. Die Sterne, die Gedanken: Chaos.

Es geht um so genannte „Lebensentwürfe“ und um das, was das Leben tatsächlich für einen bereithält. – Man kann sich mit den Gegebenheiten  und Umständen arrangieren, man kann ihnen aber auch etwas entgegenhalten. Und genau das versucht der Protagonist.

Fakt oder Fiktion?

Die an den Autor immer wieder herangetragene Frage nach der Authentizität der Story, dem Grenzverlauf von Fakt und Fiktion, scheint bisweilen vom Eigentlichen abzulenken. Der Roman setzt sich vor der Hintergrundschablone der Familienhistorie mit den verschiedenen Rollen des Protagonisten als Enkel, Sohn, Bruder, Ehemann – und Vater auseinander.

Slupetzky nimmt uns mit in eine Zeit, da der Tod für das Kind noch nicht existierte, obwohl er doch in der Familie allgegenwärtig war, den Protagonisten unausgesprochen umgab.

Es geht um den Umgang mit der Zeit, der Leere und der Angst, um Sinnfragen und ums Abschiednehmen: von den Eltern und von sich selbst als Kind und Jugendlichem, von Ideen und Vorstellungen, Weltbildern und einstigen Träumen und Perspektiven. Was sich einschreibt ist das Leben, die Liebe und das Spannungsfeld von Geborgenheit, Sicherheit und Zuhause auf der einen Seite, und Freiheit, Unsicherheit, emotionalem Chaos auf der anderen.

Gleichsam wie in Camus „Der erste Mensch“, in dem der Sohn vor dem Grab des Vaters realisiert, dass er bereits älter ist, als es der Vater je wurde, birgt der Plot für Daniel, den Titelhelden, Einsichten in Sachen Liebe und Endlichkeit. Und es ist wohl kein Zufall, dass der Autor seine Figur in einer Schlüsselszene in den Keller schickt, um ihn im Kokoon des dunklen Untergeschosses des einstigen Familiensitzes gleichsam symbolisch in die Tiefen des Unterbewussten eintauchen und nach der Vergangenheit forschen zu lassen.

Resonanzräume für Kindheitswahrnehmungen

Slupetzkys berührendste Passagen sind wohl jene, in denen es ihm gelingt, atmosphärische Resonanzräume für Kindheitswahrnehmungen zu gestalten, sinnliche Erfahrungen wiederaufleben zu lassen. Die Beschreibungen der Begegnungen mit alltäglichen Dingen und der Präsenz des behutsam-fördernden Vaters gehören sicherlich zu den hell leuchtenden Momenten des Romans.

Manche dieser Passagen lassen an Kafkas „Brief an den Vater“ (die Auseinandersetzung mit dem Judentum), andere an die Roths denken: an Joseph Roth („Zipper und sein Vater“, 1928) einerseits und Philip Roth (Mein Leben als Sohn“, 1992) andererseits. Setzt sich Letzterer mit der Krankheit des Vaters und dem eigenen Älterwerden auseinander, so lässt Ersterer seinen vaterlosen Ich-Erzähler angesichts des Todes seines Ersatzvaters sagen: „Wir vergeben nicht, wir vergessen. Oder besser: wir vergessen nicht, wir sehen gar nicht. Wir geben nicht acht. Es ist uns gleichgültig.“

Stefan Slupetzkys Protagonist aber will nicht vergessen, er möchte hinschauen. Er gibt acht. Es ist ihm nicht gleichgültig: „Der letzte große Trost“ ist vom Erinnern geprägt, vom Versuch, sich der (eigenen) Vergangenheit zu vergewissern, sich selbst einzubetten in ein größeres Ganzes. Davon, die Erinnerung an geliebte Menschen wach zu halten.

Und loszulassen.

[wina - 8+9.2016]



Wunschmaschine Jerusalem

Souvenirs: Jerusalem

Ausstellung/Detail: Souvenirs aus Jerusalem

[WINA - DAS JÜDISCHES STADTMAGAZIN | September 2015]

Das Jüdische Museum Hohenems unternimmt mit der Ausstellung “Endstation Sehnsucht. Eine Reise durch Yerushalyim–Jerusalem–Al Quds” eine symbolische Tour de Force durch die Heilige Stadt.

Von Paul Divjak

Draußen drückt die trockene Hitze, vor der ehemaligen Villa Heimann-Rosenthal steht die Sonne hoch am Firmament, und man meint bereits im Vorfeld, im Garten des Museums, die Gerüche Jerusalems wahrzunehmen; lagen da nicht eben Spuren von Koriander und Kardamom in der Luft? Das Aroma von Kreuzkümmel und gebackenem Pita-Brot, eine Idee von Etrog, Weihrauch und Haschisch, erhitztem Stein und Pinien? — mehr —


“Klappern Sie jetzt alle betagten Juden ab?”

©Czernin Verlag

©Czernin Verlag

[WINA - DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN | April 2013]

“Das Zeitalter der Verluste: Der neue Interviewband von Thomas Trenkler gibt Einblick in die Lebenswege von Holocaust-Überlebenden und Nachgeborenen.

Von Paul Divjak

Nie möchte man in eine Welt geboren sein, in denen Menschen so etwas wie den Holocaust ermöglicht haben, darin steckt eine tiefe Sehnsucht, eine Utopie. So könnte man es ausdrücken, den Filmemacher Werner Herzog paraphrasierend. Die Frage, ab wann wer gewusst hatte, was passierte, damals vor 75 Jahren, und wie man reagierte, wird von Thomas Trenkler in seinem Band “Das Zeitalter der Verluste” (Untertitel: “Gespräche über ein dunkles Kapitel”) immer wieder gestellt. — mehr —


Forschungsreise an den Anfang der Architektur

Zur Ausstellung «Architektur beginnt im Kopf» im Architekturzentrum Wien

Architektur

[werk, bauen + wohnen 1/2-2009]

Manche greifen zum Gewehr, um anhand der Einschusslöcher Formfindung zu betreiben und zu Deleuze oder Foucault, um die Ideenfindung zu beschleunigen (R & Sie(n)). Andere züchten im grossen Stil Orchideen im Büro (Lacaton & Vassal) oder widmen sich dem Spiel mit Lego-Steinen, um bisher unentdeckte Synapsenverbindungen auszuloten (Edge Design Institute). Mancher sind die besten Gedanken stets im Liegen gekommen (Lux Guyer), für eine andere nahm der offene Kamin, an dem sie mit ihren MitarbeiterInnen diskutierte, eine wesentliche Schlüsselfunktion im Rahmen des «kleinen sozialistischen Projekts» und des konkreten Entwurfsprozesses ein (Lina Bo Bardi).

Architekten ticken verschieden. Fest steht, dass der Anfang der Idee, der Beginn der Genealogie eines einzelnen Projekts oder der gesamten Arbeit, architekturgeschichtlich zumeist im Dunklen bleibt. Dieser Tatsache wollte die Kuratorin Elke Krasny bewusst etwas entgegensetzen. Sie ist den Spuren des persönlichen Rituals, der ureigenen Herangehensweise an den Schaffensprozess gefolgt. Krasny hat dem Wie des Tuns nachgespürt, und präsentiert nach zweijähriger Feldforschung, unterstützt von Gudrun Hausegger und Robert Temel, eindrückliche und aufschlussreiche Ergebnisse im Architekturzentrum Wien (Az W). — mehr —


Licensed To Ill

Zum Tod des Großmeisters der Zeremonie Adam Yauch

"Licensed to Ill" - wina, 6.2012 ©Paul Divjak[Erschienen in: wına – Das jüdische Stadtmagazin | Juni 2012]

Jene Nummer, die die Beastie Boys – damals noch als Punk-Band – in der High School 1983 intoniert hatten, sollte schon wenig später zu ihrem offiziellen Programm werden: „We’re the white shadow“, singt Mike D. aka Michael Diamond. Am Schlagwerk, temporär: Kate Schellenbach, die spätere Drummerin von Luscious Jackson, an der Stromgitarre John Berry und am Bass: Adam Yauch alias MCA.

John Berry verließ die Band, und Adam Horovitz (Ad-Rock) übernahm seinen Part. Der Rest ist Hip-Hop-Geschichte. Die drei weißen Jungs aus Brooklyn, NY, wilderten in einem Genre, das in der Black Community entstanden war, kreierten einen neuen Sound und schafften, was zu jener Zeit, Anfang der 1980er-Jahre, doch eher die Ausnahme denn die Norm war: Sie sprachen mit ihrem innovativen Hip-Hop-Rock-Crossover ein multiethnisches Publikum an, verwöhnten die juvenilen Fans mit expliziten Lyrics und vereinten sie auf den Tanzflächen der Clubs, auf Partys und im Rahmen ihrer legendären Live-Performance-Spektakel beim gemeinsamen Luftgitarre-Spielen, ekstatischen Mitwippen und -grölen sowie enthemmten Bierbecherweitwerfen. — mehr —