Eine Landvermessung mit Soundtrack

Atlas Austria – Architekturfotografie von Margherita Spiluttini im Architekturzentrum Wien

[In: werk, bauen + wohnen, 09/2007]

Die bekannte Daguerreotypie vom Boulevard du Temple, Ursprungsmotiv der Genealogie der Fotografiegeschichte, zeigt einen menschenleeren Boulevard. Zum Zeitpunkt der Aufnahme war der Strassenzug voller Menschen, Pferden, fahrbaren Untersätzen. Die extrem lange Belichtungszeit allerdings liess jegliches Leben verschwinden. Bewegung erzeugt Unschärfe und führt schliesslich zu Unsichtbarkeit. (Lediglich ein Mann, der längere Zeit dieselbe Position innehatte, hinterliess unbeabsichtigt sichtbare Spuren seiner Präsenz.)

Auch in Margherita Spiluttinis Bilderwelt, in ihr Archiv präziser Bestandsaufnahmen des Hoch- und Tiefbaus in der Disziplinar- und Kontrollgesellschaft, schreibt sich der Mensch zumeist durch seine Abwesenheit ein. Das fotografische Dispositiv bleibt menschenleer. Die Bewohner der Bauten, die Benutzer der architektonischen Oberflächen waren entweder zum Zeitpunkt des Lichteinfalls zwischen Öffnen und Schliessen des Verschlusses tatsächlich nicht anwesend, oder sie sind es letztlich nicht mehr. Privathäuser, öffentliche Gebäude, Industriebauten, Zweckarchitektur: allesamt Zeichen der Zeit, Repräsentationen von Machtverhältnissen, von Menschen geschaffen. Spiluttini betreibt mit ihrer Fotografie ausführliche Motivforschung in der Alpenrepublik. Ihre menschenverlassenen Settings könnten mitunter den flüchtigen Schatten des literarischen Personals einer Elfriede Jelinek Herberge sein.

Subjektive Projektionen

Der Fotografie als «Ort eines Abstands, eines sublimen Risses zwischen dem sinnlich Wahrnehmbaren und dem Intelligiblen, zwischen der Kopie und der Wirklichkeit, zwischen Erinnerung und Hoffnung» (Giorgio Agamben), hat sich Margherita Spiluttini voll und ganz verschrieben. Die Granddame der österreichischen Architekturfotografie, geboren und aufgewachsen in Schwarzach/St. Veit, einem «dumpfen und düsteren» (Spiluttini) ruralen Umfeld, von Thomas Bernhard in seinem ersten Roman «Frost» verewigt, spiele mittlerweile in der «1. Liga der Weltarchitekturfotografie», sie gehöre zu den «Top Ten der internationalen Architekturfotografie», verkündete Az W-Direktor Dietmar Steiner anlässlich der Eröffnung der Werkschau. Spiluttini selbst freilich lässt weit bescheidenere Töne anklingen. «Ich mache einfach Bilder von dem, was ich vorfinde», sagt sie. Ihr gehe es um ein objektives Beschreiben von Wirklichkeit, mit dem Ziel, in jedem Betrachter ein persönliches Bild von Welt entstehen zu lassen.

Die Ausstellung, gleichsam Landvermessung und Zustandsbeschreibung, findet in der zur platonschen Höhle verdunkelten Halle des Az W statt. Projektionen von Architektur – im Urbanen, an der Peripherie und in den Alpen – erhellen die Wände. Im Kleinformat die einen, im Grossformat andere. Ein steter Wechsel von rund 400 Bildern, installativ, mit Laufbildcharakter. Neben jeder Aufnahme werden Titel/Ort, Architekt und Jahreszahl, und bisweilen kontextualisierende Erläuterungen eingeblendet.

In der Dunkelheit lassen sich drei thematische Sektoren ausmachen. Im ersten wird eine Auswahl österreichischer Architekturprojekte der letzten 20 Jahre präsentiert. Aktuelle Positionen des Baugeschehens ziehen ihre Runden durch das Kodak-Karussell. Der DOCTARLUX-Aufsatz sorgt für perspektivische Korrektur. Licht und Schatten, Stäbchen und Zäpfchen. Eine langsame Bewegung durch die Zeit, im Rhythmus analoger Technik. Das Klackern der Projektoren verdichtet sich mit akustischen Einspielungen zum Abgesang auf das «So-Gewesene». Musikalische Momente aus dem Off bilden den Soundtrack zur gesamten Schau. Spiluttini lässt Bachs Goldberg-Variationen erklingen. Wohlgemerkt: verlangsamt bis zur Unkenntlichkeit. Ein einzelner Ton wird angeschlagen, klingt nach und entschwindet in der Ferne des auralen Raums. Zeit vergeht, es folgt ein Akkord, dessen Nachhall wenig später auch schon wieder Vergangenheit ist. Derart wird Stimmung etabliert und so ganz nebenbei eine im Eingangsbereich affichierte, einführende Behauptung unterwandert. Bei Margherita Spiluttinis Fotografie gäbe «es keine zusätzliche Schicht des Spektakels, des vordergründigen Symbols, der künstlichen Dramatisierung», heisst es da. Unterdessen nimmt die Suggestionskraft zu, macht sich das Affektbild breit. Es dauert gar nicht lange, und die intellektuelle Kritik der zusätzlichen Inszenierungsebene gegenüber weicht einem berührten Staunen. So sinnlich, ja nachgerade poetisch kann die Begegnung mit Architekturfotografie gestaltet sein!

Im zweiten Teilbereich der Ausstellung – ein raumtrennendes von der Decke abgehängtes Wandelement dient zugleich als Projektionsfläche – hinterlassen fotografische Analysen der Moderne ihr Abbild auf der Retina. Divergentes nimmt Form an. Im Gedächtnis bleiben die präzise kadrierten Linien der Fenster und Türen des Wittgenstein-Hauses in Wien und das Arbeitszimmer der Architektin Margarete Schütte-Lihotzky, aufgenommen kurz nach deren Tod im Jahr 2000. Memento Mori aus verschiedenen Blickwinkeln, untermalt von musikalischen Fragmenten.

Der dritte und letzte Abschnitt der Präsentation schliesslich gilt Spiluttinis bekannter «Nach der Natur»-Serie, der Konstruktion von Kulturlandschaft auf 3×4 Metern. Was sichtbar wird, ist aktuelle Lebenswelt im Grossformat. Massive Gebirgszüge, von Verkehrswegen durchsetzt. Vom industriellen Zeitalter und der «flüssigen Moderne, (Zygmunt Bauman) geprägte Landschaft. Geröll im Bild. Zeit für Asphalt, Beton, Metall. Und: nicht immer nur Sonnenschein. Auch dies ein Merkmal der spiluttinischen Fotografie: Jedes Wetter schreibt sich in sie ein. Die Arbeiten erzählen von der Fotografie und ihren Bedingungen, sie öffnen Räume und transportieren deren Aggregatzustände.

Kontemplative Dokumentation

Hat Margherita Spillutini zunächst mit Kleinbild und Mittelformat gearbeitet, so ist es heute, und das seit Jahren, ausschliesslich die Fachkamera, mit der sie zu ihren Erkundungen der Gegenwart aufbricht. «Langsam und umständlich», sei ihre Arbeitsweise, sagt sie. Was, ganz klar, mit den technischen Anforderungen des 4×5“-Formats, aber auch mit der körperlichen Disposition der Fotografin zutun hat. Die Haltung ist geprägt von einem bedächtigen Einlassen auf die Welt, und einem dokumentarischen Abbilden von Welt, und das mit sperrigem Gerät. Kontemplation, nicht selten auf unwegsamem Terrain. Bisweilen scheinen Spillutinis Blickwinkel ein wenig an die – auf die traditionelle Sitzhöhe verweisende – Kameraposition des japanischen Regisseurs Yasujiro Ozu zu erinnern.

Der Mensch ist in Spiluttinis Werk stets implizit: als abwesende GestalterInnen und BewohnerInnen einer oft rätselhaften Zeichenwelt. Die Gestaltung von Lebensraum lässt Rückschlüsse auf den Status quo zu. Die Lesart bleibt dem jeweiligen Betrachter und dessen Erfahrungshorizont überlassen. Spiluttini selbst beansprucht für sich lediglich die Position der analytischen Vermittlerin, so scheint es. Im Mittelpunkt steht der Versuch, Realität – möglichst fern des verführerischen Transportierens von zu Klischees verkommenen Signifikanten – abzubilden und zur Diskussion zu stellen. Ein Abklopfen der medialen Wirklichkeit, eine Suche nach Wahrheit.

Spiluttinis Zugang ist unprätentiös und präzise. Das heterogene Feld der Erscheinungsformen des Architektonischen und die Kulturlandschaften, in welche sie sich einschreiben, ist ihr Arbeitsgebiet. Aus dem trägt sie regelmässig Schichten ab, verlagert sie und bereitet sie zur genaueren Betrachtung und Auseinandersetzung auf. Möglichst «authentisch», interessiert an den Spuren der Zeit, kritisch, an den Pforten der Wahrnehmung. Die Fotografie als Gussform. Bestandsaufnahme als Programm. Digitale Bildbearbeitung schliesst ein solcher Zugang naturgemäss aus. Spiluttinis Arbeiten nehmen in der klassischen Dunkelkammer-Situation Form an. Die analoge Reproduktion geniesst ihr Vertrauen. Und so wird folgerichtig Staubpartikeln und Schmutz – zumindest was die Präsentation im Az W betrifft – auf den Dia-Dubs potenziell Platz eingeräumt.

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Anlässlich der Ausstellung ist ein umfassender Bildband erschienen. Er zeigt Exemplarisches aus dem Archiv der Fotografin und dokumentiert ihren über die Jahre neugierig gebliebenen Blick. In dem Journal in 11 Kapiteln – zu phänomenologischen Themenfeldern wie «Portrait einer Stadtgeschichte», «Alpen», oder «Ordnung, System, Unordnung» verdichtet – geht Margherita Spiluttini gleichermassen beharrlich wie kritisch der Frage nach, was Architektur für den Menschen bedeutet.

Architekturzentrum Wien (Hrsg.), Margherita Spiluttini. Räumlich, Fotohof Edition Bd. 85, Salzburg 2007. ISBN 978 3 901756 85 6, 319 Seiten, ca. 250 Abbildungen, € 56,40.

 



Forschungsreise an den Anfang der Architektur

Zur Ausstellung «Architektur beginnt im Kopf» im Architekturzentrum Wien

Architektur

[werk, bauen + wohnen 1/2-2009]

Manche greifen zum Gewehr, um anhand der Einschusslöcher Formfindung zu betreiben und zu Deleuze oder Foucault, um die Ideenfindung zu beschleunigen (R & Sie(n)). Andere züchten im grossen Stil Orchideen im Büro (Lacaton & Vassal) oder widmen sich dem Spiel mit Lego-Steinen, um bisher unentdeckte Synapsenverbindungen auszuloten (Edge Design Institute). Mancher sind die besten Gedanken stets im Liegen gekommen (Lux Guyer), für eine andere nahm der offene Kamin, an dem sie mit ihren MitarbeiterInnen diskutierte, eine wesentliche Schlüsselfunktion im Rahmen des «kleinen sozialistischen Projekts» und des konkreten Entwurfsprozesses ein (Lina Bo Bardi).

Architekten ticken verschieden. Fest steht, dass der Anfang der Idee, der Beginn der Genealogie eines einzelnen Projekts oder der gesamten Arbeit, architekturgeschichtlich zumeist im Dunklen bleibt. Dieser Tatsache wollte die Kuratorin Elke Krasny bewusst etwas entgegensetzen. Sie ist den Spuren des persönlichen Rituals, der ureigenen Herangehensweise an den Schaffensprozess gefolgt. Krasny hat dem Wie des Tuns nachgespürt, und präsentiert nach zweijähriger Feldforschung, unterstützt von Gudrun Hausegger und Robert Temel, eindrückliche und aufschlussreiche Ergebnisse im Architekturzentrum Wien (Az W). — mehr —


Licensed To Ill

Zum Tod des Großmeisters der Zeremonie Adam Yauch

"Licensed to Ill" - wina, 6.2012 ©Paul Divjak[Erschienen in: wına – Das jüdische Stadtmagazin | Juni 2012]

Jene Nummer, die die Beastie Boys – damals noch als Punk-Band – in der High School 1983 intoniert hatten, sollte schon wenig später zu ihrem offiziellen Programm werden: „We’re the white shadow“, singt Mike D. aka Michael Diamond. Am Schlagwerk, temporär: Kate Schellenbach, die spätere Drummerin von Luscious Jackson, an der Stromgitarre John Berry und am Bass: Adam Yauch alias MCA.

John Berry verließ die Band, und Adam Horovitz (Ad-Rock) übernahm seinen Part. Der Rest ist Hip-Hop-Geschichte. Die drei weißen Jungs aus Brooklyn, NY, wilderten in einem Genre, das in der Black Community entstanden war, kreierten einen neuen Sound und schafften, was zu jener Zeit, Anfang der 1980er-Jahre, doch eher die Ausnahme denn die Norm war: Sie sprachen mit ihrem innovativen Hip-Hop-Rock-Crossover ein multiethnisches Publikum an, verwöhnten die juvenilen Fans mit expliziten Lyrics und vereinten sie auf den Tanzflächen der Clubs, auf Partys und im Rahmen ihrer legendären Live-Performance-Spektakel beim gemeinsamen Luftgitarre-Spielen, ekstatischen Mitwippen und -grölen sowie enthemmten Bierbecherweitwerfen. — mehr —


Chronik der Gefühle

Stefan Slupetzky

Foto: ©Julia Maetzel

[WINA - DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN | August+September 2016]

Stefan Slupetzky widmet sich als Wanderer zwischen den Welten in seinem neuen Buch der Aufzeichnung von Existenziellem.

Von Paul Divjak

Auf eine literarische Erzählzeit von zwei Tagen verdichtet Stefan Slupetzky in seinem neuen Buch „Der letzte große Trost“ eine Familiengeschichte, in die sich die Zeitgeschichte eingeschrieben hat, als gälte es, den NS-Wahnsinn pars pro toto in der „Keimzelle des Staates“ auf den Punkt zu bringen: Galt doch die Liebe der jüdischen Großmutter einst ausgerechnet dem Spross aus dem Linzer Clan, der Zyklon-B hergestellt hat. Und das Enkelkind erzählt die Geschichte. — mehr —


wir arbeiten in der finsternis

wir tun was wir können

Nightshifts #33

[vortrag zum auftakt der reihe "crossings. neue kategorien in der kunst". depot, wien 2004]

die medien sind auf der suche nach dem besonderen. aus verständlichem grund. es geht um aufmerksamkeit. es geht um auflage. – und was dann kommt sind doch nur re-aktualisierungen von stereotypen aus dem tiefenspeicher des medialen gedächtnisses, altbekannte topoi im endlos-loop.da bewegen sich, ganz in romantischer tradition, autoren als eremiten durch die landschaft, da werden künstlerinnen vor, in und um ihren installationen portraitiert und die verkantete handkamera vermittelt ein weiteres mal “innovation”.

da sitzen regisseurInnen im parkett und philosophieren in versatzstücken über die aktualität eines klassikers.- und alle machen sie mit.
auf allen kanälen, die immer gleichen bilder. die immer gleichen geschichten. — mehr —