Zum hundertsten Mal

Skizze aus Frank Kafkas Tagebuch, 1910

Faksimile: Franz Kafka, Tagebuch 1910

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 5_2024 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

Im Juni jährt sich Franz Kafkas Todestag zum hundertsten Mal. Das runde Jubiläum sorgt für eine wahre mediale Kafka-Schwemme: Auf allen Kanälen wird es noch kafkaesker.

„Es war ein schöner Tag und K. wollte spazieren gehen. Kaum aber hatte er zwei Schritte gemacht, war er schon auf dem Friedhof.“ Franz Kafka

Eine Fülle an Neuerscheinungen widmet sich dem Schriftsteller, seinem Werk und möglichen Lesarten. Bildbände zeigen bisher unveröffentlichte Fotodokumente, alte Spuren werden aufgegriffen, neue aufgenom- men, Originalhandschriften kommentiert, Briefwechsel erläutert, Werkausgaben und Inhaltsangaben veröffentlicht. Der Schriftsteller, sein kurzes Leben und sein Œuvre werden konsequent weiter analysiert und seziert; es hagelt Dubletten und Erhellendes, Fortschreibung der Themenkomplexe: Kafka und das Judentum, Kafka und der Frühkapitalismus, Kafka und die Frauen, Kafka und der Weltschmerz, Kafka und das zentrale, alles prägende Motiv des um das Leben Schreibens (Rüdiger Safranski).

Das Tagebuch von heute an festhalten! Regelmäßig schreiben! Sich nicht aufgeben!

Ein 53-folgiger Podcast, produziert von der Österreichischen Franz Kafka Gesellschaft in Kooperation mit der österreichischen Gesellschaft für Literatur, dem der Schauspieler Robert Stadlober, der unter anderem vor Jahren in einem Film Kurt Weill gegeben hatte, seine Stimme leiht, lockt zum Kulturkonsum auditiver Kafka-Häppchen: Kafkas letzte Tage („ein Tag nach dem anderen, exakt 100 Jahre später“, wie es in der Pressinformation heißt).

David Schalko und Daniel Kehlmann haben mit ihrer Miniserie Kafka (ORF/ARD) breitenwirksam für zeitgenössische Vermittlungsarbeit, das Aufbrechen tradierter Interpretationen und Darstellungsweisen sowie Furore beim Publikum gesorgt.
In einem Interview mit der NZZ wird Joel Basman, der in der Produktion die Hauptrolle übernommen hat, gefragt, ob denn Kafka tatsächlich Sinn für Humor hatte. Worauf der Schweizer Schauspieler antwortet: „Auf jeden Fall! Er hat im Alltag viel Lustiges gefunden. Wenn er sagt: Das Leben geht über ein Seil, aber wir sind keine Seiltänzer, wir stolpern darüber, ist das für mich Humor. Kafka hatte auch Selbstironie.“

Die komische Seite Kafkas bleibt üblicherweise zumeist im Dunklen. Nicolas Mahler widmet sich ihr mit Kafka für Boshafte – eine Empfehlung! (Unter anderem lässt Mahler Kafka folgenden Ratschlag aussprechen: „Mein letzter Rat in dieser Sache bleibt immer: Weg von Wien.“)

Kleine Städte haben auch kleine Umgebungen für den Spaziergänger.

Kafka ist Schullektüre, die begleitende biografische Ver- kürzung bleibt allgegenwärtig: Einzelgänger, Junggeselle, einsam, unverstanden, von Träumen geplagt, von Ängsten gequält, zeitlebens ums Schreiben ringend, kränk- lich-hypochondrisch, schließlich dann: der frühe Tod: Die Kafka-Bilder und -Projektionen, die Metatexte zur Figur des Schriftstellers werden, soviel steht fest, täglich mehr; radikale Kafka-Klischeebeschleunigung. Gleichzeitig macht es fast den Anschein, als hätte sich der geflügelte Begriff des „Kafkaesken“, der ursprünglich auf die Grundatmosphäre der Absurdität, des Unheimlichen, Bedrohlichen und Tragikomischen im Werk des postum zum deutschsprachigen Literatursuperstar Avancierten Bezug genommen hat, längst unkontrollierbar verselbstständigt, ganz so, als würde sich mittlerweile all die Absurdität von heute in ihm widerspiegeln. Wie wabernde Nebel durch- dringt das überbordende Kafkaeske die komplexe Monstrosität der Gegenwart – und es ist an uns, durch sie zu navigieren und lebensbejahende Perspektiven zu kreieren.

Übermorgen fahre ich nach Berlin. Trotz Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen und Sorgen vielleicht in einem bessern Zustand als jemals.

[wina - 05.2024]



Umwelttrauer? Nein, danke!

"Woods" ©MUELLER-DIVJAK

“Woods” ©MUELLER-DIVJAK

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 05_2023 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Wir alle folgen einem Ruf. Aber dieser Ruf verändert sich immer wieder.“ Isolde Charim

Der vergangene Winter – das lässt sich, um Paul Watzlawick zu paraphrasieren, nicht nicht wahrnehmen – war schlichtweg zu warm. Auf der positiven Seite ist die Reduktion der (privaten) Heizkosten angesichts von Höchstpreisen und Rekordgewinnen bei Energieanbietern zu verbuchen. Auf der negativen Seite ist anzumerken, dass Schnee und Eis vielfach ausgeblieben sind. Ein Umstand, der nicht nur manchen Traum vom Après Ski zum Schmelzen gebracht hat, sondern der auch maßgeblich dafür mitverantwortlich ist, dass bereits im Frühjahr das Wasser mancherorts knapp wird oder gar gänzlich fehlt. — mehr —


Holocaust-Memorial-Schrank

Öffentlicher Bücherschrank ©Paul Divjak

Öffentlicher Bücherschrank, Engadin

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 03_2021 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

»The year 1938 revealed a shameful fiasco of international diplomacy.«
Joseph Tennenbaum

Holocaust Memorial Day 2021: ein öffentlicher Bücherschrank, Bücher zur freien Entnahme; ringsum liegt tiefer Schnee. Seit Wochen haben die Buchhandlungen wie der gesamte Einzelhandel geschlossen, das öffentliche Möbel scheint wie eine bibliophile Fata Morgana, eine flirrende poetische Verheißung. Die schwere Türe, metallumrahmtes dickes Glas, öffnet sich sanft gleitend, lässt an einen riesigen Outdoor-Weinkühlschrank denken. Nahezu neue Taschenbücher, noch mit Preisschild auf dem Backcover, Bestseller vergangener Tage, feministische Literatur, antiquarische Bände, Bildbände, Nachschlagewerke, Kinderbücher; Bekanntes, Unbekanntes, Gewichtiges, Vergessenes aus verschiedenen Jahrzehnten. — mehr —


Das aufgezwungene, nackte Gesicht

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 12_2017 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Auf jene wiederum, die das Pech haben, als „Unerwünschte“ etikettiert oder klassifiziert zu werden, warten Maßnahmen der Ausgrenzung.“ David Lyon

Eine demokratische Gesellschaft, in der Kleidernormen, individuelle Ausdrucksweisen von Persönlichkeit und ihre Ausdrucksformen generell zum Tabu erklärt und unter Strafe gestellt werden, erleidet ihren eigenen Gesichtsverlust

Als Artikel 2 des von der alten Regierung unter ÖVP und SPÖ  beschlossenen neuen Integrationsgesetzes ist in Österreich also das Bundesgesetz über „das Verbot der Verhüllung des Gesichts in der Öffentlichkeit“ (in der medialen Debatte zumeist auf „Burkaverbot“ reduziert) in Kraft getreten. Im Rahmen des so genannten „Antigesichtsverhüllungsgesetzes“ ist jegliche Veränderung, jede Verdeckung und Verbergung der Gesichtszüge durch „Kleidung und andere Gegenstände“ unter Strafe gestellt. — mehr —


Im Schlund

Chanel store, Vienna ©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 5_2017 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„We´re robots, made of robots, made of robots.“ Daniel Dennett

Die so genannte Zeitlinie der Zuckerberg´schen Prosumentenplattform hält einen tagtäglich auf Trab. Schließlich gilt es, nichts zu versäumen, Klicks und Likes zu verteilen, soziales Engagement zu beweisen und ein paar persönliche Spuren zu hinterlassen. Und mitunter platzen all die kleinen Filterblasen, und wir finden uns wieder in einer Monsterbubble, in der grelle Infohäppchen aufpoppen und um unsere Aufmerksamkeit buhlen: Fakten, Fiktionen und herrschende Narrationen wirken zeitgleich auf uns ein, erzählen von einer Welt, die mit jedem Weiterscrollen das Parallelgeschehen noch absurder erscheinen lässt. — mehr —