Island in the sun

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 05_2018 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Von der Familie bis zur Nation – jede Gruppe von Menschen stellt eine Inselwelt dar, wobei jede Insel ein Weltall für sich bildet.“ Aldous Huxley

Selbst wenn hier kein Vogel mit menschlicher Stimme spricht, wie in Aldous Huxleys Roman Eiland, so erinnert in der Reggae-Bar auf der kleinen südostasiatischen Insel, doch manches an Pala, jene verbotene Insel, auf der Erdenglück trotz der sozialen und politischen Probleme noch möglich ist. Das Glück freilich bleibt temporär, es ist flüchtig und erschließt sich auch nur einer Schar vom Leben Begünstigter. Sie kommen aus der ganzen Welt. Es sind Privilegierte, ausgestattet mit den notwendigen kulturellen, finanziellen und zeitlichen Ressourcen. Ihre Sehnsucht: permanent vacation, sabbatical forever.

Aus den Boxen tönt der bekannte Bob-Marley-Song in einer Jazzversion aus dem Jahr 2001: „So much trouble in the world …“

Alltag, Staat und bad news finden anderswo statt, sie bleiben in der Ferne, auf einem anderen Kontinent. Die Krisen der Gegenwart scheinen auf Stand-by, die eigene Weltwahrnehmungsblase atmet die Luft der Freiheit, sie blubbert, angereichert durch neue Eindrücke; kognitive Dissonanzen kosten weniger Kraft als gewöhnlich.
Jung und alt, Singles und tätowierte Paare, AbenteurerInnen und Suchende, temporär Verirrte und dauerhaft Verpeilte aller Geschlechter: Hier, nahe der kambodschanischen Grenze, laufen sie einander alle über den Weg. Und du triffst Menschen, denen du sonst nicht begegnen würdest.

Eine junge Finnin erzählt von ihrer Zeit in China. Sie wollte der Kälte in ihrer Heimat ein Schnippchen schlagen und hat sich Anfang April bei Schneetreiben in Beijing wiedergefunden.
Der verhaltensoriginelle Schotte sortiert zunächst Shots an der Theke und holt dann mit kindlicher Freude immer weitere Gäste in das Lokal. Die Bar füllt sich; crowded house. Das Geschehen erinnert nun an die bunte Vielfalt in der berühmten Marx-Brothers-Kajütenszene aus Die Marx Brothers auf See (1931): Bewegungen und Begegnungen, Gespräche und lautes Lachen, parallel, asynchron und in immer höherem Tempo.
Und weil die Geschwindigkeit mitunter wieder etwas gedrosselt sein will, bestellen die Russen „Bob Marley“. Die Locals wissen diesen Code zu deuten und bieten ihnen formschöne Spliffs feil, Tüten von beeindruckender Gestalt und Wirkkraft; Puff, the magic dragon.
Kurz schaut auch der Exrabbi vorbei, der vor einigen Jahren seine Berufung an den Nagel gehängt hat und nun in der Nachbarschaft ein Animierlokal betreibt: das Moulin Rouge.

„Exodus … movement of Jah people …“

Die ganzkörpertätowierte Ukrainerin verteilt als Höhepunkt des Abends Zigarren an alle, bevor der Mann an ihrer Seite, der in seinem engen „Prodigy“- Shirt an Hulk erinnert, mit dem Gesicht eines schüchternen Jungen zu seiner Panflöte greift und melancholische Weisen zum Besten gibt.
Im Miteinander und in der Verbundenheit gibt es nicht eine einzige gültige Narration, es sind viele, unterschiedliche (Lebens-)Geschichten, die vom Facettenreichtum, Mensch zu sein, erzählen. Getragen ist der Austausch vom Wunsch nach neuen globalen Perspektiven, nach alternativen Zukünften voller Ideen und wertschätzender Handlungsweisen.
Für Momente ist die Welt eine Spur weniger aus den Fugen, in der Bar am Rande des Dschungels. Gut und Böse sind als Gegensatzpaar aufgehoben. Vieles wird möglich. Und jedes einzelne Bruchstück ist in Ordnung.

[wina - 03.2018]



GLEICHZEITIGKEITEN

Morteratschgletscher, Winter 2022 ©Paul Divjak

Morteratschgletscher/Engadin, Winter 2022

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 03_2022 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Das Virus an sich offenbart eine Welt, die seit langem schon die Wirren eines tiefgreifenden Wandels verspürt.“ Jean-Luc Nancy

Wir stapfen durch das tiefverschneite Schweizer Gletschertal auf über 2.400 Höhenmetern; die Sonne scheint, vereinzelt zwitschern Vögel. Entlang der Route finden sich Wegmarken, die den Rückgang des größten Alpengletschers in der Berninergruppe im Kanton Graubünden dokumentieren: 1920, 1950, 1970, 1980, und dann in immer kürzeren Abständen bis zum Jahr 2015. Warnhinweise machen auf die Gefahr von zunehmendem Steinschlag aufgrund der Gletscherschmelze aufmerksam, und kurz darauf stehen wir auch schon vor der beeindruckenden Gletscherzunge des Morteratschgletschers. Wie ein verwundetes Wesen liegen die mächtigen blauschimmernden Eisschichten vor uns. Der Gletscher scheint weh zu klagen; deutlich ist ein auf- und abschwellendes leises Rauschen hörbar. Die gigantische Dimension der Bedrohung wird unmittelbar spürbar – so ganz anders als durch die abstrahierende Betrachtung via vergleichender Fotografien und Satellitenbildern. — mehr —


Spuren der Vergegenwärtigung

Antlantik ©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 10_2012 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

“In der Spur werden wir der Sache habhaft;
in der Aura bemächtigt sie sich unser.”
Walter Benjamin

Von Puig del Mas aus erstreckt sich die Route, die seit 2007 offiziell Walter-Benjamin-Weg genannt wird – Chemin Walter Benjamin auf der französischen, Ruta Walter Benjamin auf der spanischen Seite.

Entlang eines kleinen Flüsschens ginge es von Banyuls-sur-Mer, Richtung Puig del Mas, wo sie die obere Abzweigung genommen hätten. Über einen kleinen Parkplatz, vorbei an Einfamilienhäusern, führe der Weg in die Berge, sagt mein Freund Aaron.

Walter Benjamin sei auf seiner Flucht vor den Nazis langsam unterwegs gewesen, sehr langsam. Der 48-jährige, herzkranke Mann, von seiner Gefangenschaft und dem Exil gezeichnet, habe den beschwerlichen Weg im französisch-spanischen Grenzland mit einer schweren Aktentasche aus Leder zurückgelegt, erzählt Aaron. Diese Tasche sei sein Ein-und-alles gewesen, in ihr habe er ein Manuskript aufbewahrt, das er für wichtiger als sein Leben erachtet habe. — mehr —


Was bleibt sind die Dinge

Shadows & Reflections / tulipsWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 12–2019 + 01_2020 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Aufhäufen des Vergangenen auf Vergangenes geht ohne Unterbrechung fort, folgt uns jeden Augenblick.“ Henri Bergson

Am medialen Horizont: die tägliche Überdosis News aus der Welt, in der wir leben. Multipler Krisendauerausnahmezustand, ideologische Verblendungen und Polit-Backlash inklusive. Und der private Alltag geht weiter, im Überschaubaren trotz katastrophaler Schieflagen: Konsum mit mehr oder weniger gutem Gewissen und Kritik an den herrschenden Verhältnissen. — mehr —


Holocaust-Memorial-Schrank

Öffentlicher Bücherschrank ©Paul Divjak

Öffentlicher Bücherschrank, Engadin

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 03_2021 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

»The year 1938 revealed a shameful fiasco of international diplomacy.«
Joseph Tennenbaum

Holocaust Memorial Day 2021: ein öffentlicher Bücherschrank, Bücher zur freien Entnahme; ringsum liegt tiefer Schnee. Seit Wochen haben die Buchhandlungen wie der gesamte Einzelhandel geschlossen, das öffentliche Möbel scheint wie eine bibliophile Fata Morgana, eine flirrende poetische Verheißung. Die schwere Türe, metallumrahmtes dickes Glas, öffnet sich sanft gleitend, lässt an einen riesigen Outdoor-Weinkühlschrank denken. Nahezu neue Taschenbücher, noch mit Preisschild auf dem Backcover, Bestseller vergangener Tage, feministische Literatur, antiquarische Bände, Bildbände, Nachschlagewerke, Kinderbücher; Bekanntes, Unbekanntes, Gewichtiges, Vergessenes aus verschiedenen Jahrzehnten. — mehr —