Destination Wien 2015

Wien; Heldenplatz (2013) ©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 5_2015 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

Wien scheint immer noch unter einer Glocke der denkmalgeschützten Historie zu schlummern. – Bisweilen aber erschließen sich auch in der Erinnerungskultur erweiterte, neue Perspektiven.

Die Tage rumorte es wieder einmal im Archiv; das Video Heldenplatz, 1973 kursierte im Netz, zog seine Spur durch die sozialen Plattformen. Zum Vorschein kam eine nur auf den ersten Blick unscheinbare ORF-Interviewserie, entstanden Anfang der Neunzehnsiebzigerjahre auf dem Wiener Heldenplatz. Was sich als alpenländische Tableaux Vivants vor dem Hintergrund des historischen Ortes auftat, hätte prototypische Alltagsfaschismusfolie für Qualtingers „Herrn Karl“ oder Thomas Bernhards 1989 uraufgeführtes gleichnamiges Theaterstück sein können.

Menschen von nebenan, sympathische Damen und Herren, tragen ihr Wiener Herz auf der Zunge. Sie sprechen über den 15. März 1938, über den Einzug des Führers, das Massenerleben und ihre ganz persönliche Begeisterung: „Ich hab den Chruschtschow gesehen, ich hab den Karl Schranz gesehen. Ich hab die Haas gesehen, ich hab den Kennedy gesehen. Ich hab mir gedacht: Schaust dir auch den Führer an.“

Das Besondere an den Aufnahmen ist die Selbstverständlichkeit, der charmante Brustton der Überzeugung im Erinnern, die Gewissheit, sich auf sicherem Terrain des Konsens zu bewegen. Da ist noch keine Rede von der „Waldheim-Affäre“, weit und breit noch keine Erschütterung der Geschichtskonstruktion des kollektiven Gedächtnisses in Sicht, die populären Mythen: Noch sind sie stabil.

Unbedarft, direkt, ohne Filter eines gewachsenen Bewusstseins zeichnet sich in Farbe ein schwarzweißes Bild der Post-Pogrom-Gesellschaft ab, in der wir aufgewachsen sind. Und was sich ganz beiläufig auftut, sind ungeheure Abgründe; selbstverständlich, erschreckend.

Mit einem Mal befinden wir uns in einer Zeit, in der die Blicke zurück überdeutlich von Verklärung bestimmt waren, die Winkel der Betrachtung sich verengt, die Erinnerungen sich wortreich eingetrübt haben.

Wien scheint auch heute noch unter der Glocke der denkmalgeschützten Historie zu schlummern, die Stadt ein einziger großer Friedhof (Leo Perutz) zu sein. Bisweilen aber tun sich auch in der Erinnerungskultur erweiterte, neue Perspektiven auf.

Aktuell steuert etwa Ruth Beckermann mit ihrer Intervention the missing image bis dato fehlende historische Kader bei, katapultiert sie im Kontext des „Mahnmals gegen Krieg und Faschismus“ von Alfred Hrdlicka zurück in den öffentlichen Raum. Körperbilder als Projektionen aus der Vergangenheit; filmische Dokumente für die Gegenwart: Was erstmals zu sehen ist, ist die Erweiterung des stilisierenden Steinmonuments um das Ensemble, das die Erniedrigung des am Boden Knieenden überhaupt erst ermöglicht hat: die Täter, die Beteiligten, die lachende Menge.

Täterperspektiven sollen laut Kuratorin Monika Platzer auch im AzW gezeigt werden: Wien. Die Perle des Reiches – Planen für Hitler heißt die aktuelle Schau, während sich das Jüdische Museum Wien mit Ringstraße. Ein jüdischer Boulevard einer anderen Epoche widmet, eine andere Lesart der Stadtgeschichte anbietet.

Thematisiert die eine Ausstellung die raumplanerischen und städtebaulichen Maßnahmen und Entwürfe des NS-Regimes, rückt die andere – mit Gemälden, Fotografien, historischen Dokumenten, Modellen und Exponaten – die Ringstraßenbauten, die Geschichte(n) der Bauherren und ihrer Familien sowie den sozialpolitischen Status quo des ausgehenden 19. Jahrhunderts in den Mittelpunkt des Interesses.

Verhandelt werden hier wie dort verschiedene Formen der Aneignung von (Stadt-)Raum. Was sich einschreibt, ist die Architektur als Instrument der Repräsentation einer ideologisch-expansiven Territorialpolitik (im MuseumsQuartier) und Abbild von gesellschaftlicher Inklusion und Zeichen des Status und der neuen Sichtbarkeit (in der Dorotheergasse).

Nach den Ausstellungsbesuchen schiebt sich unvermittelt eine Frage in die Wahrnehmung. Eine Straßenbahngarnitur wurde anlässlich des 650-jährigen Jubiläums der Universität Wien mit den Worten „Lernen wir aus der Geschichte?“ beklebt. Die fetten Lettern umrunden zurzeit den Ring.

[wina - 5.2015]



Radikale Beschleunigung

Spinning the World ©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 3_2017 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

“World, hold on.” Bob Sinclair

Ein neues Narrativ wird über die Vereinigten Staaten, wird über die Welt gestülpt. Es geht Schlag auf Schlag. Keine Atempause, Geschichte wird gemacht.

Der Milliardär, der sich als Homo Politicus verkleidet hat, gibt ein Tempo vor, als gälte es die Demokratie noch im ersten Firmenquartal in eine Autokratie zu verwandeln. Im Fokus: die eigenen Dividenden, jene der engsten Vertrauten und die Überzeugtheit, dass die reduzierte Darwin-Überlieferung des Survival of the Fittest ein Naturgesetz sei. — mehr —


Der Wahnsinn der Normalität

Graffiti / Tel Aviv ©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 12_2015 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Wo die Ideologie der Macht gilt, wird das Selbst von seinem inneren Kern und damit auch von den Wurzeln seiner historischen Erfahrungen abgeschnitten …“ Arno Gruen

Die täglich auf uns einwirkenden Nachrichten verändern die Wirkung von medial etablierten „Heile Welt“-Konstruktionen. Inszenierungen wie jene der Werbeindustrie scheinen immer absurder angesichts der aktuell wachsenden Transitzonen der Ungewissheit.

Seit Monaten sehen wir als Medienkonsumentinnen und -konsumenten überfüllte Schiffe, kenternde Boote, Menschen, unterwegs zu Wasser, zu Land, auf Feldwegen, Straßen, Menschen, notdürftig untergebracht in Zelten, Turnhallen, Containern. Wir sehen Kinder, die im Freien, in Kartons, schlafen. Es fehlt mitunter am Notwendigsten, an Wasser, Nahrung, Kleidung, Toilettenartikel, Dingen des Alltags. — mehr —


Love To Love You Baby

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 12_2012 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„And frankly there is nothing so unusual about being a Jewish cowboy!“
Socalled

Zum Zeichen ihrer Liebe hatten sich beide tätowieren lassen: Flo trägt nun Liavs Namen auf den Knöcheln der rechten Faust, Liav den von Flo.
Flo ist Schauspieler. Er liebt das Leben, Partys, Männer, bunten Fummel und die große Geste. – Das war schon immer so.

Flo und ich lernten uns Mitte der 1990er-Jahre kennen. Er gab damals eine Leiche. Da lag er, hübsch anzusehen – und: drehbuchgemäß erschossen; viel Fake-Blut inklusive. Ich war als Standfotograf für den Showdown angeheuert, kannte niemanden am Set und drückte auf den Auslöser. — mehr —


Im Schlund

Chanel store, Vienna ©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 5_2017 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„We´re robots, made of robots, made of robots.“ Daniel Dennett

Die so genannte Zeitlinie der Zuckerberg´schen Prosumentenplattform hält einen tagtäglich auf Trab. Schließlich gilt es, nichts zu versäumen, Klicks und Likes zu verteilen, soziales Engagement zu beweisen und ein paar persönliche Spuren zu hinterlassen. Und mitunter platzen all die kleinen Filterblasen, und wir finden uns wieder in einer Monsterbubble, in der grelle Infohäppchen aufpoppen und um unsere Aufmerksamkeit buhlen: Fakten, Fiktionen und herrschende Narrationen wirken zeitgleich auf uns ein, erzählen von einer Welt, die mit jedem Weiterscrollen das Parallelgeschehen noch absurder erscheinen lässt. — mehr —