Das aufgezwungene, nackte Gesicht

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 12_2017 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Auf jene wiederum, die das Pech haben, als „Unerwünschte“ etikettiert oder klassifiziert zu werden, warten Maßnahmen der Ausgrenzung.“ David Lyon

Eine demokratische Gesellschaft, in der Kleidernormen, individuelle Ausdrucksweisen von Persönlichkeit und ihre Ausdrucksformen generell zum Tabu erklärt und unter Strafe gestellt werden, erleidet ihren eigenen Gesichtsverlust

Als Artikel 2 des von der alten Regierung unter ÖVP und SPÖ  beschlossenen neuen Integrationsgesetzes ist in Österreich also das Bundesgesetz über „das Verbot der Verhüllung des Gesichts in der Öffentlichkeit“ (in der medialen Debatte zumeist auf „Burkaverbot“ reduziert) in Kraft getreten. Im Rahmen des so genannten „Antigesichtsverhüllungsgesetzes“ ist jegliche Veränderung, jede Verdeckung und Verbergung der Gesichtszüge durch „Kleidung und andere Gegenstände“ unter Strafe gestellt.

Auch das Tragen von Masken und die Maskerade – kulturelle und rituelle Elemente der Transgression und Transformation, Spiel mit Identitäten – unterliegt somit dem Gesetz und ist ab sofort auf Bühne, Sport und Folklore beschränkt. Maske und Maskerade stehen der Normierung der Gesellschaft ganz offensichtlich im Weg. Es gilt die Gleichung: Verhüllung = Bedrohung (Achtung, fremde Religion!, Achtung, Anarchie!). Die Logik, die dem Verbot zugrunde zu liegen scheint, folgt jener der Überwachung im Netz: Wenn du nichts Unrechtes getan hast, gibt es auch keinen Grund, dich zu verstecken, dich zu verkleiden, anders als der oder die sichtbar zu sein, der/die du (vermeintlich) tatsächlich bist.

Interessant ist, dass selbst bei dem schon lange gesetzlich verankerten „Vermummungsverbot“ bei Demonstrationen laut §9 des Versammlungsgesetzes von einer Durchsetzung desselben abgesehen werden kann, wenn keine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu befürchten ist. – Und gleichzeitig nun: die staatlich verordnete Verpflichtung, das Gesicht zu jeder Zeit, an jedem Ort, ungeachtet von persönlichen Bedürfnissen und privaten Gründen, vom Kinn bis zur Stirn sichtbar machen zu müssen? – „Ziel dieses Bundesgesetzes ist die Förderung von Integration durch die Stärkung der Teilhabe am gesellschaftlichen Zusammenleben“, heißt es im Gesetzestext. – Vorgebliche Stärkung der Teilhabe durch radikale Restriktion, erzwungene Konformität und standardisierte physiologische Empfindungswirklichkeiten? – Der Willkür in der Exekution sind jedenfalls Tür und Tor geöffnet, die (soziale) Kälte wird spürbar.

Die Angst vor der Maske als dem anderen, dem fremden Gesicht erzählt viel über unsere Kultur. Im Zeitalter der flächendeckenden Überwachung scheint vor allem eine ursächlich damit verbundene Angst groß zu sein: jene vor dem Potenzial der Verwandlung (und damit einhergehend: der nicht unmittelbaren Verortbarkeit eines Subjekts.)
Eine demokratische Gesellschaft aber, in der profane Kleidernormen vorgeschrieben, modische Accessoires zur Akzentuierung und Veränderung von Gesichtszügen reglementiert, individuelle Ausdrucksweisen von Persönlichkeit und ihre Darstellungsformen generell zum Tabu erklärt und unter Strafe gestellt und BürgerInnen vom Staat zum Tragen eines permanenten, quasi- „authentischen“ Gesichts verpflichtet werden, erleidet, so viel lässt sich sagen, ihren eigenen Gesichtsverlust.

Wir können uns freilich lustige Clownnasen aufsetzen, uns über mehr oder weniger willkürliche Anhaltungen und Anzeigen von ganzkörperverhüllten Werbemaskottchen amüsieren, uns in den sozialen Netzwerken über die Absurdität der neuen Gesetzgebung lustig machen. Das begleitende Lachen aber ist kein tatsächlich befreiendes. Jeglicher (Re-)Aktionismus kann nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass es sich bei dem Verbot um einen massiven Eingriff in die Freiheit aller BürgerInnen handelt. – Im Zeitalter von Facebook und Co werden unsere Gesichter nun auch im öffentlichen Raum zu fremdkontrollierten. – Face/Off !

[wina - 12.2017]

 

 



Island in the sun

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 05_2018 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Von der Familie bis zur Nation – jede Gruppe von Menschen stellt eine Inselwelt dar, wobei jede Insel ein Weltall für sich bildet.“ Aldous Huxley

Selbst wenn hier kein Vogel mit menschlicher Stimme spricht, wie in Aldous Huxleys Roman Eiland, so erinnert in der Reggae-Bar auf der kleinen südostasiatischen Insel, doch manches an Pala, jene verbotene Insel, auf der Erdenglück trotz der sozialen und politischen Probleme noch möglich ist. Das Glück freilich bleibt temporär, es ist flüchtig und erschließt sich auch nur einer Schar vom Leben Begünstigter. Sie kommen aus der ganzen Welt. Es sind Privilegierte, ausgestattet mit den notwendigen kulturellen, finanziellen und zeitlichen Ressourcen. Ihre Sehnsucht: permanent vacation, sabbatical forever. — mehr —


Zimmer mit Aussicht

Hochhaus Herrengasse, Terrasse ©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 11_2012 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„In seinen tausend Honigwaben speichert der Raum verdichtete Zeit.“
Gaston Bachelard

Der Concierge begrüßt einen freundlich aus seiner verglasten Loge; wir befinden uns nicht in einem Appartementhaus in New York, sondern mitten im Stadtzentrum von Wien, in der Herrengasse.

Beim ältesten Hochhaus der Stadt, errichtet vom Architektenteam Theiss & Jaksch Anfang der 1930er-Jahre, handelt es sich um eine stadtplanerische Meisterleistung, sieht man ihm doch aufgrund seiner abgestuften Terrassenbauweise die Höhe von 53 Metern von den engen Straßen und Gassen der Innenstadt aus nicht an. Nichtwissende Passanten würdigen die Fassade keines weiteren Blicks. — mehr —


Im Schlund

Chanel store, Vienna ©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 5_2017 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„We´re robots, made of robots, made of robots.“ Daniel Dennett

Die so genannte Zeitlinie der Zuckerberg´schen Prosumentenplattform hält einen tagtäglich auf Trab. Schließlich gilt es, nichts zu versäumen, Klicks und Likes zu verteilen, soziales Engagement zu beweisen und ein paar persönliche Spuren zu hinterlassen. Und mitunter platzen all die kleinen Filterblasen, und wir finden uns wieder in einer Monsterbubble, in der grelle Infohäppchen aufpoppen und um unsere Aufmerksamkeit buhlen: Fakten, Fiktionen und herrschende Narrationen wirken zeitgleich auf uns ein, erzählen von einer Welt, die mit jedem Weiterscrollen das Parallelgeschehen noch absurder erscheinen lässt. — mehr —


Das Rumoren der Archive

Zettelkasten (Literaturhaus Wien) ©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 7+8_2015 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Eine Gesellschaft, die sich eine offene und freie Zukunft wünscht, muss daher über eine Kultur verfügen, die nicht auf dem Verdrängen und Vergessen der Vergangenheit beruht …“ Mario Erdheim

Dem Vergessen und Verdrängen wird aktuell Erinnerungsarbeit entgegengesetzt. Archive werden geöffnet, das Material drängt ans Licht.

Bevor der Morzinplatz im Zuge einer Neugestaltung des Kais in naher Zukunft möglicherweise überplattet wird, „um Platz für Freizeitaktivitäten und Raum für künstlerische Gestaltung“ zu schaffen, und somit schon bald buchstäblich Gras über die immer noch klaffende Lücke gewachsen sein könnte, standen jüngst genau dort ausgedehnte Grabungsarbeiten am kollektiven Gedächtnis – oder besser am nationalen Konsensus (Susan Sontag) –, und die Auseinandersetzung mit vergessener und verdrängter Geschichte und dem allmählichen Wandel der Gedenkkultur auf dem Programm. — mehr —