In der grauen Lagune

Mustersiedlung 9=12

Mustersiedlung 9=12   Foto: ©Pez Hejduk

WERK, BAUEN + WOHNEN | KOLUMNE | PAUL DIVJAK

Unterwegs mit dem Autobus nehmen wir zunächst einen kleinen Umweg durch das Weltall. Vorbei am Uranusweg, dem Mond-, und Juppiterweg geht es dann hinunter, direkt in Richtung eines kleinen irdischen Sumpfgebiets, das Jim Jarmusch zu «Down by Law» inspiriert haben könnte. Natürlich en miniature, alles viel kleiner hier, als drüben in Louisiana. Wir sind hier ja schliesslich in Österreich. In Hadersdorf, am Stadtrand von Wien, um genauer zu sein.

Kleiner, und viel lebensnaher als auf Fotografien, ist auch die «innovative Villenkolonie» (PR-Text), die enigmatische Mustersiedlung 9=12. Von Alfred Krischanitz initiiert, von insgesamt neun namhaften Architekten realisiert, der Betonindustrie ausstaffiert, und direkt am Friedhofsweg gelegen. Die Toten ruhen in unmittelbarer Nähe: sie machen keinen Lärm mehr. Das plötzlich einsetzende Getöse kommt von der nahegelegenen Westbahn. Exakt 9 Uhr 49. – Das muss der EuroCity nach Basel sein.

Noch verläuft der gesamte Schienenverkehr hier über der Erde, und das ist nicht zu überhören. Der Schall der ratternden Räder wird von der ersten unverputzten Betonwand reflektiert. Die Wellen machen sich mit hoher Geschwindigkeit auf, drehen eine Runde und überlagern einander. Es dröhnt und poltert: Surround Effect im offenen Innenhof, einem Grünstreifen, zwischen den zwei Häuserzeilen der Siedlung, in denen je fünf Prototypen stehen.

Der Himmel ist ein wenig bedeckt. Der erste Blick mustert die Siedlung. Dicht gedrängt stehen sie beinander, die wohnbaugeförderten Sichtbetonbauten aus Architektenhand. Ein weiss verputzter Ausreisser findet sich darunter, mit seinen Stuckverzierungen und Verschalungen wirkt er verkleidet – als billiges Klischee einer bürgerlichen Stadtvilla.

Bei den Flecken auf der Aussenhaut eines anderen Objekts handelt es sich um gefärbten Beton, und somit Konzept. Ein drittes hat aufgrund seines offen gestalteten Stiegenhauses sichtlich mit den herrschenden Wetterbedingungen zu kämpfen. Das Geländer ziert bereits ein Windschutz, und dennoch scheint die Innenseite des darüberliegenden Flugdaches bereits ein wenig feuchter als geplant.

Wackelige, hüfthohe Beleuchtungstelen stehen da, vereinzelt in den Boden gerammt. Eine grosse Schautafel im Vorgarten informiert, als handele es sich um ein Projekt in der Grössenordnung der einstigen Baustelle am Potsdamer Platz. Tatsächlich fällt es nicht wirklich schwer, bei diesen Dimensionen die Orientierung zu bewahren. Natur hier, Schrebergärten da und dort – und unten, wie gesagt: die Bahntrasse. Dazwischen erhebt sich aus der Erdoberfläche eine ominöse Terrasse. Sie ist umzäunt und darf nicht betreten werden. Ein Sonnendeck, noch nicht in Betrieb? Eine Minigolfanlage, erst im Entstehen? – Ein Rundgang führt rasch zu Aufklärung: Bei dem Objekt handelt es sich um einen reinen Nutzbau. Es ist die etwas höher gelegte Tiefgarage für die Mittelklassewagen der BetonsiedlungsbewohnerInnen.

Schmale, lieblos asphaltierte Wege führen zu den Eingängen, in denen sich Hausrat sammelt. Auch mit den Balkonen, den Nischen, hinter Mauervorsprüngen und in den engen Fluren scheint Stauraum gewonnen zu sein. Vereinzelt stehen wackelige Jungbäume in den Grünstreifen zwischen den Bauten. Massive Holzpfosten garantieren ihre Standfestigkeit bis sie gross und stark, und an diesem Ort angekommen sein werden.

Das ist es also, das ehrgeizige Projekt «Betonsiedlung». Die Musteranlage im Kleinformat: die graue Lagune unter den zeitgenössischen Reihenhausprojekten. Und es ist nicht so, dass die angrenzenden Schrebergartenhäuser plötzlich im Schatten der Neuankömmlinge stünden. Vielmehr scheint es, als wären alle aus einem Guss, irgendwie, und ganz selbstverständlich miteinander verwandt: vorgefertigte Ausstellungsstücke für eine Klientel mit unterschiedlichen Ansprüchen.

Ein rosafarbener 08/15-Bau lugt neugierig von nebenan auf das Areal herüber, und scheint mit seiner Chuzpe der neuen Siedlung so ganz nebenbei ein weiteres Stück Selbstvertrauen zu nehmen.

[In: werk, bauen + wohnen, 1+2/2008]



Über die Dörfer

©Paul DivjakWERK, BAUEN + WOHNEN | KOLUMNE | PAUL DIVJAK

Aus Heuersdorf, südlich von Leipzig gelegen, hatte man im Herbst 2007 die mittelalterliche Emmauskirche abtransportiert. Mit Hilfe eines Schwertransporters wurde das Gotteshaus in einen zwölf Kilometer entfernten Nachbarort verfrachtet. Die über 750 Jahre alte Kirche musste dem Braunkohleabbau weichen. Im Interesse der Allgemeinheit hatte der Verfassungsgerichtshof die Zerstörung von Heuersdorf genehmigt. Durch die Jahrhunderte von Zivilisation bestimmte dörfliche Struktur wurde zum Abbruch freigegeben, die Bevölkerung umgesiedelt. Bauernhöfe, Wohnhäuser, das Gemeindezentrum und der Friedhof werden in absehbarer Zeit verschwunden sein. Dann wird nichts mehr an die einstige Ortschaft erinnern. Und monströse Maschinen dominieren das Bild einer kargen Wüstenlandschaft. Ein Foto, das ein Hobbyfotograf im September des vergangenen Jahres in Heuersdorf aufgenommen hatte, zeigt das Detail eine Telefonzelle der Deutschen Telekom, an einer verwaisten Dorfstrasse. Auf dem Display des Apparates steht: «Entschuldigung – Nur Notruf möglich.» — mehr —


Die Kulissen Leben

Palace Hotel, St.Moritz ©Paul DivjakWERK, BAUEN + WOHNEN 6_2008 | KOLUMNE | PAUL DIVJAK

Wenn einem beim Spaziergang entlang eines glasklaren Baches in den Schweizer Alpen nicht seltene Wiesenblumen, sondern unvermittelt Golfbälle unterkommen, dann kann auch St. Moritz nicht mehr weit sein.

Ich nehme die Rolltreppe hinauf, direkt ins Zentrum der Gemeinde. Noch ein paar Schritte und das Portal des Palace Hotels gerät ins Blickfeld.

Verabredet zum Abendessen mit Freunden, bin ich mit meinen Gedanken ein paar Tausend Kilometer weit entfernt, in der Wüste, an einem möglichen Drehort, um genauer zu sein, und so öffne ich eine falsche Türe. – Mit einem Mal stehe ich im Wirtschaftstrakt des Hotels. Keine Vergoldungen, keine Verzierungen, keine schweren Vorhänge: ein karger Gang, schon länger nicht mehr ausgemalt, einfach beleuchtet; abgeschlagene Türen und rundum sichtbare Reduktion auf das Notwendigste. Fern sind die holzvertäfelten Decken, die hohen Säle, weitläufigen Räume und überbordenden Interieurs. Das koloniale Mobiliar, der historisierende Pomp, sämtliche Accessoires, die Exklusivität verheissen – jegliche Inszenierung des Mondänen: all das ist hier verschwunden. — mehr —