Das Rumoren der Archive

Zettelkasten (Literaturhaus Wien) ©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 7+8_2015 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Eine Gesellschaft, die sich eine offene und freie Zukunft wünscht, muss daher über eine Kultur verfügen, die nicht auf dem Verdrängen und Vergessen der Vergangenheit beruht …“ Mario Erdheim

Dem Vergessen und Verdrängen wird aktuell Erinnerungsarbeit entgegengesetzt. Archive werden geöffnet, das Material drängt ans Licht.

Bevor der Morzinplatz im Zuge einer Neugestaltung des Kais in naher Zukunft möglicherweise überplattet wird, „um Platz für Freizeitaktivitäten und Raum für künstlerische Gestaltung“ zu schaffen, und somit schon bald buchstäblich Gras über die immer noch klaffende Lücke gewachsen sein könnte, standen jüngst genau dort ausgedehnte Grabungsarbeiten am kollektiven Gedächtnis – oder besser am nationalen Konsensus (Susan Sontag) –, und die Auseinandersetzung mit vergessener und verdrängter Geschichte und dem allmählichen Wandel der Gedenkkultur auf dem Programm.

Im Rahmen des Festwochen-Projekts Hotel Metropole. Der Erinnerung eine Zukunft geben widmete man sich der Befragungen jenes Ortes, an dem einst das 1873 errichtete Hotel stand, das 1938 unmittelbar nach dem “Anschluss”, zum Hauptquartier der Gestapo wurde – zur Zentrale des Erfassens, Verfolgens, Verhörens, Folterns, und Vernichtens.

In Ausstellungen, Interventionen, Installationen im öffentlichen Raum, Performances, Vorträgen und Diskussionen stand das Sichtbartmachen von Spuren, das Zutagefördern von Vergessenem, Verdrängtem, das Thematisieren von tradierten Anschauungen, von Leerstellen und Versäumnissen, das Verknüpfen von neuen Blickwinkeln sowie das Erschließen veränderter, interdisziplinärer Lesarten auf dem Programm. Eingebunden waren KünstlerInnen, HistorikerInnen, ExpertInnen aus den unterschiedlichsten Gebieten, AktivistInnen und VertreterInnen der Zivilgesellschaft.

Jenseits des jahrzehntelange praktizierten Modells Vergangenheitsbewältigung à la Österreich – durch die Setzung der Opferthesen-Konstruktion und das Abkoppeln von Historie und Verantwortung –, wurde auf unterschiedlichste Art Zeitgeschichte und der gesellschaftspolitische Umgang mit ihr thematisiert.

Es rumort in den Archiven, die Signifikanten drängen ans Licht. Das Material bahnt sich Pfade, bietet neue Lesarten an, legt Bezugspunkte nahe.

Arbeiten an Tabu und Gedächtnis; Dilemmata, überall. Und das Schweigen ist Thema, jenes der Täter und jenes auf Seiten der Opfer (der Überlebenden und der Nachfolgegeneration).

Die Tatsache, sich selbst und anderen das Recht abzusprechen, die eigene Opfergeschichte zu erzählen, schreibt sich unter anderem in die großartige, bedächtige Performance von Eduard Freudmann ein, der in The White Elephant Archive, Setting No.3 mittels des umfassenden Archivs seiner Großmutter, die Geschichte seines Großvaters aufarbeitet und mit reduzierten Mitteln als Doku-Drama auf die Bühne bringt. Hinter seinem Schreibtisch sitzend, spürt er als Phänomenologe den Sedimenten aus Bildern, Briefen und Sprachaufzeichnungen nach, ergänzt sie um Metatexte und hält dergestalt dem Verschwinden exemplarisch veröffentlichte Lebensgeschichte entgegen.

Archivrecherchen bilden auch den Ausgangspunkt für exhibit of crime. Die Mörder sind unter uns, ein vielschichtiges Projekt von Arye Wachsmuth und Sophie Lillie. Im Warburg`schen Sinne haben die beiden einen Mnemosyne-Beitrag zur Topografie des Terrors am Morzinplatz erarbeitet. Mittels eigens ausgehobener und in Relation gestellter zeithistorischer Fotografien, Akten, Zeitungsartikel und Annoncen zeigen sie die NS-Wirkmächtigkeit hinsichtlich der politischen Nachkriegsrealität und den Umgang mit Tätern und strafrechtlichem Nichtgeschehen auf.

Im zentralen Teil der Arbeit ziehen in einer Videoinstallation die Gesichter jener rund 1000 Männer vorbei, die als Gestapo-Mitarbeiter fotografisch erfasst worden sind. Das Gros von ihnen ist nach 1945 unbehelligt in die „Normalität“ zurückgekehrt.
Entkoppelt von der Bindung an die einstige Macht, freigegeben vom Archivkörper, entfalten diese Bilder, diese Materialien radikale Präsenz – von ihnen gehen “postume Schocks” (Sontag) aus.

[wina - 7+8.2015]



Auf der Suche nach neuen Erzählungen

"Lichtgrenze" beim Brandenburger Tor, Berlin (anläßlich 25 Jahre Mauerfall) ©Paul Divjak

“Lichtgrenze”, Berlin (2014)

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 5_2016 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Tomorrows unitary world is in need of transcendence and liberation from a thinking in opposites.“ George Czuczka

Weltanschauungen lassen sich nicht verordnen. Aber es lassen sich gesellschaftliche Bedingungen schaffen, die zur Veränderung von tradiertem, vorurteilsbehaftetem Denken beitragen.

Wir sind überinformiert – und empfinden uns zunehmend als machtlos. Entscheidet man sich für den Medienkonsum, lassen einem Quantität und Komplexität des real existierenden Wahnsinns keine Verschnaufpause. Und die schlimmsten Bilder erreichen unser Bewusstsein gar nicht mehr. — mehr —


Der Besuch der alten Dame

"Gustav Klimt" ©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 3_2015 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

Eine Frau geht ihren Weg. Hell leuchtet ihr das symbolische Licht der Gerechtigkeit entgegen. Hinter ihr und ihrem Begleiter zeichnen sich die Schatten der Vergangenheit ab: Hollywood erzählt den Rechtsstreit Maria Altmann vs. Republik Österreich. — mehr —


Das aufgezwungene, nackte Gesicht

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 12_2017 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Auf jene wiederum, die das Pech haben, als „Unerwünschte“ etikettiert oder klassifiziert zu werden, warten Maßnahmen der Ausgrenzung.“ David Lyon

Eine demokratische Gesellschaft, in der Kleidernormen, individuelle Ausdrucksweisen von Persönlichkeit und ihre Ausdrucksformen generell zum Tabu erklärt und unter Strafe gestellt werden, erleidet ihren eigenen Gesichtsverlust

Als Artikel 2 des von der alten Regierung unter ÖVP und SPÖ  beschlossenen neuen Integrationsgesetzes ist in Österreich also das Bundesgesetz über „das Verbot der Verhüllung des Gesichts in der Öffentlichkeit“ (in der medialen Debatte zumeist auf „Burkaverbot“ reduziert) in Kraft getreten. Im Rahmen des so genannten „Antigesichtsverhüllungsgesetzes“ ist jegliche Veränderung, jede Verdeckung und Verbergung der Gesichtszüge durch „Kleidung und andere Gegenstände“ unter Strafe gestellt. — mehr —


Was für ein Anachronismus!

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 03_2018 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Der Nationalismus ist eine Ideologie, die einen Feind braucht; er kann ohne ein anderes, gegen das er sich stellt, nicht existieren, wer oder was auch immer dieses andere sein mag.“ Slavenka Drakulic

Die mediale Landschaft wird aktuell von politischer Seite mit groben Werkzeugen bearbeitet, radikalisierte Rückgriffe und sprachliche Übergriffe garantieren Aufmerksamkeitseffekte und das erwünschte Agenda-Setting.

Was aktuell Form angenommen hat, ist ein offener Kampf um die Konstruktion der Deutungshoheit. Rechtspopulistische und extreme Schachzüge, die auf unsere bewusste und unbewusste Sicht auf die Wirklichkeit einwirken, versuchen, Alltag und Staat nach einem bestimmten Wertemuster zu organisieren. Und es ist keine Frage: Das ihnen zugrundeliegende Modell ist ein ewig gestriges. — mehr —