Was bleibt sind die Dinge

Shadows & Reflections / tulipsWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 12–2019 + 01_2020 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Aufhäufen des Vergangenen auf Vergangenes geht ohne Unterbrechung fort, folgt uns jeden Augenblick.“ Henri Bergson

Am medialen Horizont: die tägliche Überdosis News aus der Welt, in der wir leben. Multipler Krisendauerausnahmezustand, ideologische Verblendungen und Polit-Backlash inklusive. Und der private Alltag geht weiter, im Überschaubaren trotz katastrophaler Schieflagen: Konsum mit mehr oder weniger gutem Gewissen und Kritik an den herrschenden Verhältnissen.
Ich schlüpfe in den seidenen „House of Gentlemen“-Morgenmantel aus dem Besitz eines verstorbenen Schauspielers, dem Vater einer guten Freundin (die mich damit beschenkt hat), trage einen Duft aus seiner Parfümsammlung auf (Terre von Hermès im 200ml-Riesen-Flakon) und blättere in einem alten Buch. Es stammt aus der Bibliothek eines gelehrten großväterlichen Freundes, dessen Todestag sich vor Kurzem zum zweiten Mal jährte. (Ich habe sein vom Hebräischen gefärbtes Deutsch, seine prägnante Stimme im Ohr. – Er fehlt.)
Mein Blick fällt auf seinen Büchernachlass, die Memoiren von Golda Meir, von Teddy Kollek und Claude Lanzmann, auf Alex Beins Herzl-Biografie, die zahlreichen Sachbücher zur Geschichte und Kultur des Judentums, zur Bibelgeschichte und zur Schoah. – Alle stehen im Regal der noch (immer) nicht gelesenen Bücher.
Auf dem Sideboard im Wohnzimmer steht der alte Leuchtglobus meiner Großmutter. Deutschland ist noch nicht wiedervereinigt. Die Tschechoslowakei, Jugoslawien und die Sowjetunion sind in bunten Farben erhellt. Die Weltmeerestrahlen gleichmäßig, geprägt von einem tiefen, gesunden Blau. Und auch das Meereis der Pole ist sichtlich und großflächig weiß dargestellt.
Neben dem Globus steht ein DJ-Mischpult, verkabelt mit dem Plattenspieler. Es gehörte einmal einem jungen Mann, der sich unvermittelt das Leben genommen hat. Seine Mutter, eine nahe Verwandte, hat es mir letzten Sommer geschenkt. – Ich habe versprochen, damit das Leben zu feiern, Menschen zum Tanzen zu bewegen.
An der Zimmerdecke reflektieren die kleinen Spiegel einer Diskokugel; postumes Glitzern.
Dann ist da auch jener nagelneue Boss-Kapuzenpullover. Nicht mein Stil und doch wertvoll, erinnert er doch an die unbändige Lebenslust meines Onkels aus Wuppertal, seinen Humor und das unglaubliche Talent, Geschichten zu erzählen.
Da sind unter anderem auch die italienische Vase der ebenfalls verstorbenen Eltern eines Freundes, jede Menge Fotofgrafien, Nippes, Hausrat und Erinnerungsstücke aus anderen Zeiten. Ich bin umgeben von Gegenständen, die einmal das Eigentum anderer waren. Sie geben als persönliche Artefakte Zeugenschaft von der Existenz ehemals lebender Verwandter, Freunde und ihrer Angehörigen.
Und wie alle Dinge führen auch diese Dinge ein Eigenleben. Sie geraten in Vergessenheit, setzen Staub an. Und sie fordern Aufmerksamkeit ein. Die Dinge erinnern an Gewesenes, sie erzählen von Interessen und Leidenschaften, persönlichem Geschmack und Vorlieben, von Schicksalen und Lebenswegen. Sie sind nützlich oder formschön – im Idealfall sind sie beides. Sie geben Auskunft über Vergangenes oder behalten Geheimnisse für sich. Und mitunter berühren sie einen immer wieder aufs Neue.
Die mehr oder weniger beseelten und die toten Dinge umgeben uns, die gelebten und die geträumten Dinge. Sie sind Materie, in der wir uns wiederfinden, an der wir (uns) festhal- ten. Sie begleiten unsere Existenz. Und da ist immer auch die Hoffnung, dass sie diese auch zu belegen vermögen.
Je nach finanziellen Möglichkeiten wird gekauft, investiert, personalisiert, an der Komplettierung, Perfektionierung und Ästhetisierung des Alltags gearbeitet. Der Unsicherheit unserer Existenz halten wir (das Sammeln der) Dinge entgegen.
Wünsche werden erfüllt, andere bleiben offen.
Und bisweilen räumt man auf, begegnet den Dingen mit et- was Abstand und kritisch, reflektiert dankbar die eigene Privilegiertet, lässt nicht mehr Benötigtes los, trennt sich von jenem, das seine unmittelbare Wichtigkeit für einen verloren hat, gibt ab, verschenkt, spendet für einen guten Zweck.
Und kaum ist Platz geschaffen, sammeln sich die Dinge erneut an, scheinen sich um uns zu formieren, als bildeten sie einen Kokon zum Überdauern in Raum und Zeit.
Und manchmal muss man sie zurücklassen, und manchmal werden sie böswillig zerstört – und manchmal einfach nur achtlos und grob behandelt. Doch wie wir mit Dingen umgehen, so gehen wir auch mit Menschen um.

[wina - 12_2019 + 1_2020]



In der Stimmungsfalle

©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 12_2016 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Das Sichtbare verbirgt das Unsichtbare.“ – Pierre Bourdieu

Die Radikalisierung der Sprache, des Denkens, des Handels ist heute Alltag geworden in einem Europa, in dem medial vor allem eines regiert: das Schüren von Ängsten.

Was uns umgibt, sind Bedrohungsszenarien in Wort und Bild. Wie naheliegend sind da der Rückzug auf das Eigene, das Vertraute, das vermeintlich Immer-schon-so-Gewesene und dessen Verteidigung gegen das andere, das Fremde.

Die Medien rühren kräftig im Sud der Negativmeldungen, bedienen sich ihre Verstärkerfunktion, kochen Positionen und Ereignisse hoch, servieren uns unsere tägliche Dosis des Wahnsinns der Normalität. — mehr —


Zimmer mit Aussicht

Hochhaus Herrengasse, Terrasse ©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 11_2012 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„In seinen tausend Honigwaben speichert der Raum verdichtete Zeit.“
Gaston Bachelard

Der Concierge begrüßt einen freundlich aus seiner verglasten Loge; wir befinden uns nicht in einem Appartementhaus in New York, sondern mitten im Stadtzentrum von Wien, in der Herrengasse.

Beim ältesten Hochhaus der Stadt, errichtet vom Architektenteam Theiss & Jaksch Anfang der 1930er-Jahre, handelt es sich um eine stadtplanerische Meisterleistung, sieht man ihm doch aufgrund seiner abgestuften Terrassenbauweise die Höhe von 53 Metern von den engen Straßen und Gassen der Innenstadt aus nicht an. Nichtwissende Passanten würdigen die Fassade keines weiteren Blicks. — mehr —


Holocaust-Memorial-Schrank

Öffentlicher Bücherschrank ©Paul Divjak

Öffentlicher Bücherschrank, Engadin

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 03_2021 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

»The year 1938 revealed a shameful fiasco of international diplomacy.«
Joseph Tennenbaum

Holocaust Memorial Day 2021: ein öffentlicher Bücherschrank, Bücher zur freien Entnahme; ringsum liegt tiefer Schnee. Seit Wochen haben die Buchhandlungen wie der gesamte Einzelhandel geschlossen, das öffentliche Möbel scheint wie eine bibliophile Fata Morgana, eine flirrende poetische Verheißung. Die schwere Türe, metallumrahmtes dickes Glas, öffnet sich sanft gleitend, lässt an einen riesigen Outdoor-Weinkühlschrank denken. Nahezu neue Taschenbücher, noch mit Preisschild auf dem Backcover, Bestseller vergangener Tage, feministische Literatur, antiquarische Bände, Bildbände, Nachschlagewerke, Kinderbücher; Bekanntes, Unbekanntes, Gewichtiges, Vergessenes aus verschiedenen Jahrzehnten. — mehr —


Hier ist ein Mensch, öffne die Tür

רימונים ©Paul Divjak

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 05_2021 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

»Wo sind plötzlich alle hin?
Alles weicht zurück und verschwindet
Nur die Worte schweben noch
Wohin gehen wir von hier aus, wohin?«
Avi Bellieli (Titellied „Shtisel“)

In Zeiten, in denen die Kinos seit Monaten geschlossen sind, wird mitunter der Bildschirm zur Leinwand. Die Spielfreude der Akteur*innen von Shtisel überträgt sich, die Figuren nehmen uns mit, wir tauchen ein in die Weltvermittlung sozialer Strukturen, historisch geformter Riten und Traditionen. Identitäten werden in der Gemeinschaft geformt und stehen doch immer wieder aufs Neue in Frage, sie geben Halt und lassen taumeln. Im Raster des Gesetzes der Gemeinde erfährt der/die Einzelne ambivalente Gefühle. Die humorvolle Zeichnung der eng abgesteckten Lebenswelten bildet den Rahmen, innerhalb dessen sich die Familiendarstellung bewegt und Sinnfragen gestellt werden. — mehr —