Zimmer mit Aussicht

Hochhaus Herrengasse, Terrasse ©Paul Divjak

Hochhaus Herrengasse, Terrasse ©Paul Divjak

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 11_2012 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„In seinen tausend Honigwaben speichert der Raum verdichtete Zeit.“
Gaston Bachelard

Der Concierge begrüßt einen freundlich aus seiner verglasten Loge; wir befinden uns nicht in einem Appartementhaus in New York, sondern mitten im Stadtzentrum von Wien, in der Herrengasse.

Beim ältesten Hochhaus der Stadt, errichtet vom Architektenteam Theiss & Jaksch Anfang der 1930er-Jahre, handelt es sich um eine stadtplanerische Meisterleistung, sieht man ihm doch aufgrund seiner abgestuften Terrassenbauweise die Höhe von 53 Metern von den engen Straßen und Gassen der Innenstadt aus nicht an. Nichtwissende Passanten würdigen die Fassade keines weiteren Blicks. Errichtet von der Gemeinde, waren die Mieten in dem Nobelkomplex hoch, folglich zog das Haus nicht zuletzt Prominenz als Bewohner an. Curd Jürgens hat hier residiert, Gunther Philipp, Oskar Werner und der Schriftsteller Lew Abramowitsch Nussim- baum (alias Essad Bey). Und auch heute noch gilt eine Bleibe in dem Meisterstück der Moderne als Prestige- gewinn, und so findet man hier Vertreter aus Medien und Kultur Tür an Tür neben älteren, alleinstehenden Damen, Mieterinnen der ersten Stunde.

Die Türen des Aufzugs schließen, die langsame Fahrt führt in den 13. Stock. Top 79 steht einladend offen. Die Abendsonne, die soeben hinter der Minoritenkirche untergeht, taucht das kleine Einzimmer- Apartment, in dem sich eine holzverschalte Kochnische befindet, in weiches, orangefarbenes Licht.
Der Neue Wiener Kunstverein, initiiert von einer polnischen Kuratorin, hat hier ein temporäres Zuhause gefunden. Die Künstler der Eröffnungsausstellung thematisieren den Ort, sie zeigen historische Postkarten und eine Fotoinstallation. Ein alter Diaprojektor projiziert eine Strandlandschaft durch die geöffnete Balkontüre hinaus ins Freilichtpanorama. Im Hintergrund: der Kahlenberg. Das Bild verliert sich, legt sich als unsichtbare Ebene über die Stadt.

Eine Wohnung wie dieses Zimmer mit Aussicht wurde einst als Junggesellenappartement gehandelt. Im 1938 in Prag erschienen und kurze Zeit später als „unerwünscht“ geltenden Roman Morgen ist alles besser von Annemarie Selinko wohnt die emanzipierte Protagonistin in einer solchen Luxus-Garçonière. Sie trifft im Aufzug auf einen Engländer, verliebt sich in ihn und schläft kurzerhand mit ihm. Eine moderne Frau in einem modernen Bau.

Die Rückseite des Daches der Burgtheaters wirkt von hier aus wie der Giebel einer Bahnhofshalle Otto Wagners, die Dachkonstruktion von Hiesmayrs Juridicum wie ein vor Ort gestrandetes Schiff. Am Hof schreitet der Umbau des einstigen Hofkriegsratsgebäudes und späteren Bankensitzes zum Hotel voran. Der Großbrand im letzten Jahr ist dem repräsentativen Bau nicht mehr anzusehen.

Ein Blickwinkel von 180 Grad. Nähe und Distanz. Aus dieser ungewohnten Perspektive erfährt das scheinbar Vertraute eine neue Dimension. Der Blick auf die Stadt verändert sich. Die Winkel, uneinsichtigen Ecken, verborgenen Straßenfluchten dieses engen urbanen Geflechts scheinen mit einem Mal auf das Verdrängte der Geschichte, die sich in diese historische Kulisse eingeschrieben hat, zu verweisen.

Allmählich wird es dunkel. Lichtermeer.

(Die Autorin Annemarie Selinko wurde 1914 als Tochter eines Textilhändlers in Wien geboren. Sie war im dänischen Widerstand aktiv und wurde zwischenzeitlich von der Gestapo inhaftiert. Sie starb 1986 in Kopenhagen und ist heute trotz schriftstellerischer Welterfolge nahezu vergessen. Ihr letztes Werk Desirée hat sie ihrer Schwester Liselotte gewidmet, die in Auschwitz ermordet worden ist.)

[wına | November 2012]



Auf den Spuren von Familie Freud

Fassade: Freud-Museum Shop & Café ©Paul Divjak

Fassade: Freud-Museum Shop & Café

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 01_2021 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

»Wir kennen nur den leeren Raum im Wald,
der gestern voller Bäume war.«
Anna Freud

Die knallige, phallische FREUD-Logo-Stele vor dem Haus Berggasse 19 ist verschwunden. Die Gründerzeithäuser der gegenüberliegenden Straßenseite spiegeln sich in der neuen, ausgedehnten Glasfront, über der eine Markise à la Gastgarten angebracht worden ist. Zwei große, kreisrunde Lüftungsauslässe irritieren neben einer für BesucherInnen gesperrten Wirtschaftstüre. Im ehemaligen Geschäftslokal, in dem vor einigen Jahrzehnten Boote zum Verkauf in einem Wasserbecken vor Anker lagen, befinden sich heute Café und Foyer. Ein seitlicher, in den Baukörper zurückversetzter Eingang, wirkt wie ein düsterer Hinterausgang eines erst kürzlich eröffneten Clubs, dem die Patina der Nacht noch fehlt. — mehr —


Island in the sun

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 05_2018 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Von der Familie bis zur Nation – jede Gruppe von Menschen stellt eine Inselwelt dar, wobei jede Insel ein Weltall für sich bildet.“ Aldous Huxley

Selbst wenn hier kein Vogel mit menschlicher Stimme spricht, wie in Aldous Huxleys Roman Eiland, so erinnert in der Reggae-Bar auf der kleinen südostasiatischen Insel, doch manches an Pala, jene verbotene Insel, auf der Erdenglück trotz der sozialen und politischen Probleme noch möglich ist. Das Glück freilich bleibt temporär, es ist flüchtig und erschließt sich auch nur einer Schar vom Leben Begünstigter. Sie kommen aus der ganzen Welt. Es sind Privilegierte, ausgestattet mit den notwendigen kulturellen, finanziellen und zeitlichen Ressourcen. Ihre Sehnsucht: permanent vacation, sabbatical forever. — mehr —


Die Schönheit der Leere

Museum of Emptiness, St.GallenWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 10_2016 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„There are moments in our lives, there are moments in a day, when we seem to see beyond the usual.“ Robert Henri („The Art Spirit“)

In St. Gallen hat die in Israel geborene und in der Schweiz lebende Künstlerin Gilgi Guggenheim dieser Tage ihr Museum der Leere eröffnet. Einen ganz speziellen Ort, der durch Abwesenheiten glänzt und dazu einlädt, die Fülle der Leere zu erleben. — mehr —


R.I.P

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 10_2017 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„I’m walking through deep water / I have no time to lose …“ Arthur Cave (2000-2015)

Ganz allgemein ist vom Verdrängen des Todes in unserer Kultur die Rede, dabei haben wir es auf der einen Seite mit einer Privatisierung des Sterbens und der professionalisierten, institutionalisierten Verwaltung des Todes und auf der anderen mit einer dauerhaften Präsenz des mediatisierten Sterbens zu tun.

Die Meldungen über Krieg, Terror, menschengemachte und naturbedingte Katastrophen, Flüchtlingselend und Hungersnöte gehören zum Medienalltag; der beständige Todes-Nachrichtenfluss kratzt an unseren Wahrnehmungsfiltern.

Der Tod ist allgegenwärtig in Nachrichten, Filmen, Games und Co.; die Unterhaltungsindustrie ist gerade zu besessen von Inszenierungen der Gewalt, des Kämpfens, Tötens und Sterbens. Und uns KonsumentInnen sind diese Repräsentationen des Todes wohl gleichsam Nervenkitzel und willkommener Bann, ganz so als ließe sich, – gleich einem techno-schamanistischen Schutzzauber –, der eigenen Sterblichkeit – zumindest eine Zeitlang – ein Schnippchen schlagen, die Todesangst ein wenig besänftigen. — mehr —