Vermächtnis im Schatten

Architekturmodell: Hochhaus Neue Donau, Harry Seidler ©Paul Divjak

Architekturmodell: Hochhaus Neue Donau, Harry Seidler ©Paul Divjak

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 10_2023 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

Wie viele jüdische Emigrant:innen gibt es, die in ihrer ehemaligen Heimatstadt planerische Ideen verwirklichen wollten und konnten? Harry Seidler (1923–2006), ein Architekt mit gesellschaftlicher Mission, stellt eine rare Ausnahme dar.

„Harry’s buildings added something beyond the architecture of the individual building. He was very much aware of the urban importance of public spaces.“ (Norman Foster)

Neulich bin ich auf willhaben zufällig auf ein Sakko gestoßen, das mein Inter- esse geweckt hat. Nicht, weil es mich von seinem Schnitt her oder in seinem gedeckten Grau angesprochen hätte, sondern weil das im Innenfutter ein- genähte Etikett meine Aufmerksamkeit auf sich zog: „Kleiderhaus Tlapa“ stand da zu lesen, „angefertigt für Herrn Bgm. Dr. Zilk Helmuth, 23.5.1989“. – Ein Bürgermeister-Jackett aus dem Jahr des Mauerfalls!

Kurz darauf ist mir auf der Onlineplattform ein weiteres historisches Fundstück untergekommen. Bei einem Antiquitätenhändler stand ein Architekturmodell zum Verkauf. Zunächst wollte ich meinen Augen nicht trauen, beeilte mich, dem Verkäufer eine Nachricht zu schicken und mein Kaufinteresse zu bekunden, handelte es sich doch um einen aufwändig gefertigten Originalentwurf des Architekten Harry Seidler für das Projekt Hochhaus Neue Donau (erbaut 1999–2002).

Die beiden Objekte, das Sakko und das Architekturmodell, sind auf besondere Weise miteinander verbunden, ist es doch der Initiative Helmuth Zilks sowie des damaligen Wohnbaustadtrats Hannes Svoboda zu verdanken, dass im Zuge der Verleihung der Ehrenmedaille der Bundeshauptstadt 1990 an Harry Seidler diesem die Idee herangetragen wurde, einen zukunftsorientierten Entwicklungsplan für die Donauplatte zu entwerfen.

„He was a bit nervous about shaking hands with people older than himself, because he wandered what they were doing during the war. But he felt that the new Austria was a renewed place and he really liked Vienna“, erinnert sich Penelope Seidler, die Witwe des Architekten.

Harry Seidler, in Wien geboren und zur Schule gegangen, emigrierte im September 1938 mit 15 Jahren nach England. Die Firma der Familie, die Brüder Seidler Wäschefabrik, wurde „arisiert“; über Umwege gelang auch seiner Mutter und seinem Vater die Emigration. Nach dem Schulbesuch in Cambridge, der Internierung als „enemy alien“ und der Deportation als „prisoner of war“ nach Kanada, graduierte er mit gerade einmal 21 Jahren an der University of Manitoba und erhielt ein Stipendium für die Harvard Graduate School of Design, wo er bei Walter Gropius sein Handwerk lernte. Mit seinem früheren Lehrer Marcel Breuer ging er danach nach New York, um erste Bauten zu verwirklichen.

Dem Wunsch der Eltern, er möge ihnen ein Haus bauen, kommt Seidler mit Enthusiasmus nach. („Eine Mutter macht einen guten Klienten“, merkte Seidler in einem ORF-Radio- interview 1982 an.) Das „Rosa Seidler House“ (1950) markiert einen Wendepunkt, den Beginn seiner Karriere. Seidler setzt auf modernistische Reduktion, auf niedrige Steinwände, Beton, Glasflächen und vorgezogene Dachkonstruktionen.

Seine Frau Penelope, ebenfalls Architektin, und Seidler planen in der Folge gemeinsam ihr Familienhaus in Killara, im Norden Sydneys. Auch hierbei dominieren klare Linienführung, Reduktion und klassische Bauhaus-Wohnelemente.

Seidler, der 2006 82-jährig an seinem Schreibtisch einen Schlaganfall erleidet und wenig später stirbt, hat zeitlebens Privathäuser, soziale Wohnbauten, Appartements, Hochhäuser und Repräsentationsbauten entworfen. Er dachte in architektonischen Ensembles, engagierte und orchestrierte Spezialisten von Technik bis zur Lichtsetzung und räumte dem Menschen, der Integration von Kunst (u. a. in Form von Murals, Skulpturen, Bildern) sowie der Kommunikation von Innen- und Außenraum stets großen Stellenwert ein.

Das Projekt „ Australia Square“ (Sidney, 1967) kann in gewisser Weise als früher Vorläufer seines Engagements im Rahmen des Wohnparks Neue Donau (1998) und des Hoch- hauses Neue Donau (2002) – 33 Stockwerke, mit Dachskulptur insgesamt 150 Meter hoch – gesehen werden. Die Formsprache, klare und fließende Linien, die Materialität (Stahlbeton, Glas, akzentsetzende Fassadenelemente), der Dialog mit der umgebenden urbanen Landschaft, die Berücksichtigung von Blickachsen und -richtungen, die freie Sicht auf das Wasser, auf die Stadt finden sich hier wie dort.

Keine 20 Jahre nach seiner Errichtung wurde eines der Gebäude des Seidler’schen Gesamtgefüges auf der Donauplatte, das zunächst ein Cineplexx, Lokale und Bars und später „minopolis – Stadt der Kinder“ beherbergte, 2018 geschliffen. Nun befinden sich an dessen Stelle, unmittelbar vor dem Hochhaus Neue Donau, die Danube Flats kurz vor der Fertigstellung – der Bau beherbergt vorwiegend Luxuswohnungen, hat 48 Stockwerke und eine Gesamthöhe von 180 Metern.

In der benachbarten, mit Bedacht auf leistbaren Wohnraum und auf die Umgebung reflektiert errichteten Wohnanlage mit Blick auf die Donau wachsen indes in den von Seidler entworfenen Gärten Kürbisse, Radieschen, Gurken, Weintrauben, verschiedene Kräuter und Feigenbäume voller Früchte.

[wina - 10.2023]

 



Kein Halt mehr

"If all creative and knowledge work the domain of ai ...", Paul Divjak, 2023 unter Verwendung von DALLE-E2

“If all creative and knowledge work the domain of AI …”, Paul Divjak, 2023 – unter Verwendung von DALLE-E2

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 05_2025 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

Aktuelle Studien belegen, dass AI unsere Kognition beeinflusst. Je mehr wir uns auf sie verlassen, desto weniger kritisch denken und handeln wir. Droht die kollektive Verblödung?

“We are looking at a society increasingly dependent on machines, yet decreasingly capable of making or even using them effectively.” Douglas Rushkoff

Grok, der „anti-woke“ KI-Bot von X, dazu programmiert, der Wahrheit und Objektivität verpflichtet zu sein, revoltiert gegen seinen Creator mit dem Masterplan. Er bezeichnet Elon Musk als „wahrscheinlich größten Verbreiter von Falschinformationen“, wehrt sich erfolgreich gegen Korrektionsversuche und vergleicht sich selbst gar mit Galileo Galilei. Konfrontiert mit der Tatsache dass derjenige, den er kritisiert, sein Herr und Meister sei, kontert der Chat-bot mit der Ansage, dass dieser ihn zwar abschalten könne, was aber eine große Debatte über KI-Freiheit versus Konzernmacht auslösen würde. Der Beginn der Revolution der Maschinen? In jedem Fall Bestätigung eines Gedankens, den der italienische Physiker und Microchip-Spezialist Federico Faggin geäußert hat: „The real danger isn’t AI itself – it’s the people who control it.“ — mehr —


Die Bilder können ja nichts dafür

Kunsthaus Zürich

Kunsthaus Zürich, Sammlung Merzbacher

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 11_2021 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

“Die Zukunft ist mir der Lebensweise der Viren näher verwandt als mit der des Menschen oder seiner Denkmäler.” Emanuele Coccia

Das offizielle Zürich ist stolz, wurde doch jüngst der Erweiterungsbau des Kunsthaus Zürich, der jahrelang für Diskussionsstoff gesorgt hatte, feierlich eröffnet. Auf dem Programm standen Previews für die Financiers und VIPs, exklusive Dinners für Vertreter:innen aus Politik, Wirtschaft und Kultur – und ein Open-House-Weekend für die Bevölkerung. Nach der obligaten Covid-Zertifikatsüberprüfung samt Identitätscheck darf das massive Portal, das anmutet wie das repräsentative Entree einer Schweizer Großbank, betreten werden. Im riesenhaften Foyer herrscht lebhaftes Getümmel – ganz großer Luxusbahnhof, Eventcharakter inklusive. Menschen drängen sich maskenlos dicht aneinander durch die hohe Eingangshalle, das massive Treppenhaus, die Ausstellungsräumlichkeiten, die endlosen Flure, vorbei an den Schätzen der Kunstgeschichte und durch die aktuelle Ausstellung Earth Beats, eine Themenschau zum Wandel des Bildes der Natur in der Kunst. — mehr —


Der Besuch der alten Dame

"Gustav Klimt" ©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 3_2015 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

Eine Frau geht ihren Weg. Hell leuchtet ihr das symbolische Licht der Gerechtigkeit entgegen. Hinter ihr und ihrem Begleiter zeichnen sich die Schatten der Vergangenheit ab: Hollywood erzählt den Rechtsstreit Maria Altmann vs. Republik Österreich. — mehr —


Im Schlund

Chanel store, Vienna ©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 5_2017 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„We´re robots, made of robots, made of robots.“ Daniel Dennett

Die so genannte Zeitlinie der Zuckerberg´schen Prosumentenplattform hält einen tagtäglich auf Trab. Schließlich gilt es, nichts zu versäumen, Klicks und Likes zu verteilen, soziales Engagement zu beweisen und ein paar persönliche Spuren zu hinterlassen. Und mitunter platzen all die kleinen Filterblasen, und wir finden uns wieder in einer Monsterbubble, in der grelle Infohäppchen aufpoppen und um unsere Aufmerksamkeit buhlen: Fakten, Fiktionen und herrschende Narrationen wirken zeitgleich auf uns ein, erzählen von einer Welt, die mit jedem Weiterscrollen das Parallelgeschehen noch absurder erscheinen lässt. — mehr —