Auf der Suche nach neuen Erzählungen

"Lichtgrenze" beim Brandenburger Tor, Berlin (anläßlich 25 Jahre Mauerfall) ©Paul Divjak

“Lichtgrenze”, Berlin (2014)

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 5_2016 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Tomorrows unitary world is in need of transcendence and liberation from a thinking in opposites.“ George Czuczka

Weltanschauungen lassen sich nicht verordnen. Aber es lassen sich gesellschaftliche Bedingungen schaffen, die zur Veränderung von tradiertem, vorurteilsbehaftetem Denken beitragen.

Wir sind überinformiert – und empfinden uns zunehmend als machtlos. Entscheidet man sich für den Medienkonsum, lassen einem Quantität und Komplexität des real existierenden Wahnsinns keine Verschnaufpause. Und die schlimmsten Bilder erreichen unser Bewusstsein gar nicht mehr.

Unsere Welt ist erfüllt von Angst. Radikalisierungen allerorts – und der Begriff „Kampf“ ist in aller Munde. Gekämpft wird gegen Körpergeruch und den Feind im eigenen Körper – die Zivilisationskrankheit Krebs –, gekämpft wird für Ideologien, für politische und religiöse Überzeugungen und gegen illegale Finanztransaktionen von so genannten Global Players. Gekämpft wird gegen Feinde und Feindbilder – die Idee eines Feindes.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass offizielle Sprachdoktrinen nicht fruchten. So hat beispielsweise die DDR versucht, dem Volk ein neues Denken zu verordnen. Ohne nachhaltigem Erfolg freilich.
Hatte man in der Zeit des „Bollwerks gegen Faschismus und Imperialismus“ darauf gesetzt, Worte aus dem Sprachgebrauch zu entfernen, um die damit verbundenen Konnotationen aus Alltag und kollektivem Gedächtnis zu löschen, so lässt sich heute, über 25 Jahre nach dem Mauerfall sagen: Es liegt nicht alleine an Begrifflichkeiten – in den Köpfen spukt es weiter. Von einem autoritären Regime übergangslos zum ächsten: Das hinterlässt Spuren in den Synapsen.

Heute sehnen sich viele nach Grenzen, wie es sie in der DDR einst gab: undurchdringlich mit Stacheldraht und Wachtürmen. Und nach einem pflichtbewussten Grenzschutz, der gegebenenfalls zur Waffe greift und auf Flüchtende schießt. – Wer die nationalen Grenzen verletzt, muss eben mit dem eigenen Tod rechnen. Oder wie Karl-Eduard von Schnitzler, der Paradeeinpeitscher des DDR- Fernsehens es einmal sinngemäß formuliert hat: „Wer auch immer die Grenzen der DDR überschreiten will, benötigt die Genehmigung dazu. Andernfalls: Bleiben sie unseren Grenzen fern! All jene, die sich der Gefahr aussetzen, werden sterben. (…) Es ist human, den Frieden für alle Menschen auf Erden zu sichern. Und das passiert nicht durch Gebete. Es passiert durch Kampf. (…) Es ist human, diesen Staat geschaffen zu haben. (…) Es ist human, die DDR gegen Menschen zu schützen, die sie zum Frühstück verspeisen wollen.“

Die offizielle Narration des Arbeiter- und Bauernstaates lautete: Die Grenzen sind dazu da, euch zu schützen. Denn dort draußen lauert die Gefahr.
Die Angst, offiziell geschürt im Namen der inneren Sicherheit, bleibt bedrohlicher Subtext und im Dunklen. Die Logik des „Schutzwalls“ gegen das andere, gegen
Feinde des Staates, gegen Kräfte, die alles tun, um ihn zu destabilisieren und zu zersetzen, wirkt nach. Sie erfährt Wiederbelebung, sie wird unter anderen Vorzeichen fortgeschrieben. Und die Angst derer, die sich im Zuge der postkommunistischen Geschichte als Vergessene und Übriggebliebenen empfinden, ist – auch in Ländern wie Polen und Ungarn – zu Wut und zu Hass geworden.

Weltanschauungen lassen sich nicht verordnen. Aber es lassen sich gesellschaftliche Bedingungen schaffen, die zur Veränderung von tradiertem, vorurteilsbehaftetem Denken beitragen.
Es wird noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern, bis die Mechanismen der strukturellen Gewalt der DDR aufgedeckt und diskutiert werden, bis kollektive Erfahrungen einer Gesellschaft beleuchtet und Zeitgeschichte neu gelesen werden können.
Die Geschichte von Ländern und ganzen Regionen wird sich in Hinkunft und rückbezüglich anders darstellen, dazu tragen Leaks, investigativer Journalismus, die Öffnung von Archiven, zivilgesellschaftliche Initiativen, individuelle und kollektive (Bewusstseins-)Bildung bei.

Was feststeht, ist, dass wir nicht warten können, bis wir uns die „wahre Geschichte“ des Hier und Jetzt erzählen können. Wir benötigen dringend neue Erzählungen – und zwar EU-weit. Erzählungen, die für einen sozialen, kulturellen und ökologischen Wandel stehen, die von Empathie und einem Miteinander, kluger Politik und gemeinsamen Perspektiven geprägt sind.

[wina - 5.2016]



Kein Halt mehr

"If all creative and knowledge work the domain of ai ...", Paul Divjak, 2023 unter Verwendung von DALLE-E2

“If all creative and knowledge work the domain of AI …”, Paul Divjak, 2023 – unter Verwendung von DALLE-E2

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 05_2025 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

Aktuelle Studien belegen, dass AI unsere Kognition beeinflusst. Je mehr wir uns auf sie verlassen, desto weniger kritisch denken und handeln wir. Droht die kollektive Verblödung?

“We are looking at a society increasingly dependent on machines, yet decreasingly capable of making or even using them effectively.” Douglas Rushkoff

Grok, der „anti-woke“ KI-Bot von X, dazu programmiert, der Wahrheit und Objektivität verpflichtet zu sein, revoltiert gegen seinen Creator mit dem Masterplan. Er bezeichnet Elon Musk als „wahrscheinlich größten Verbreiter von Falschinformationen“, wehrt sich erfolgreich gegen Korrektionsversuche und vergleicht sich selbst gar mit Galileo Galilei. Konfrontiert mit der Tatsache dass derjenige, den er kritisiert, sein Herr und Meister sei, kontert der Chat-bot mit der Ansage, dass dieser ihn zwar abschalten könne, was aber eine große Debatte über KI-Freiheit versus Konzernmacht auslösen würde. Der Beginn der Revolution der Maschinen? In jedem Fall Bestätigung eines Gedankens, den der italienische Physiker und Microchip-Spezialist Federico Faggin geäußert hat: „The real danger isn’t AI itself – it’s the people who control it.“ — mehr —


Hier ist ein Mensch, öffne die Tür

רימונים ©Paul Divjak

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 05_2021 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

»Wo sind plötzlich alle hin?
Alles weicht zurück und verschwindet
Nur die Worte schweben noch
Wohin gehen wir von hier aus, wohin?«
Avi Bellieli (Titellied „Shtisel“)

In Zeiten, in denen die Kinos seit Monaten geschlossen sind, wird mitunter der Bildschirm zur Leinwand. Die Spielfreude der Akteur*innen von Shtisel überträgt sich, die Figuren nehmen uns mit, wir tauchen ein in die Weltvermittlung sozialer Strukturen, historisch geformter Riten und Traditionen. Identitäten werden in der Gemeinschaft geformt und stehen doch immer wieder aufs Neue in Frage, sie geben Halt und lassen taumeln. Im Raster des Gesetzes der Gemeinde erfährt der/die Einzelne ambivalente Gefühle. Die humorvolle Zeichnung der eng abgesteckten Lebenswelten bildet den Rahmen, innerhalb dessen sich die Familiendarstellung bewegt und Sinnfragen gestellt werden. — mehr —


Im Schlund

Chanel store, Vienna ©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 5_2017 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„We´re robots, made of robots, made of robots.“ Daniel Dennett

Die so genannte Zeitlinie der Zuckerberg´schen Prosumentenplattform hält einen tagtäglich auf Trab. Schließlich gilt es, nichts zu versäumen, Klicks und Likes zu verteilen, soziales Engagement zu beweisen und ein paar persönliche Spuren zu hinterlassen. Und mitunter platzen all die kleinen Filterblasen, und wir finden uns wieder in einer Monsterbubble, in der grelle Infohäppchen aufpoppen und um unsere Aufmerksamkeit buhlen: Fakten, Fiktionen und herrschende Narrationen wirken zeitgleich auf uns ein, erzählen von einer Welt, die mit jedem Weiterscrollen das Parallelgeschehen noch absurder erscheinen lässt. — mehr —


Was für ein Anachronismus!

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 03_2018 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Der Nationalismus ist eine Ideologie, die einen Feind braucht; er kann ohne ein anderes, gegen das er sich stellt, nicht existieren, wer oder was auch immer dieses andere sein mag.“ Slavenka Drakulic

Die mediale Landschaft wird aktuell von politischer Seite mit groben Werkzeugen bearbeitet, radikalisierte Rückgriffe und sprachliche Übergriffe garantieren Aufmerksamkeitseffekte und das erwünschte Agenda-Setting.

Was aktuell Form angenommen hat, ist ein offener Kampf um die Konstruktion der Deutungshoheit. Rechtspopulistische und extreme Schachzüge, die auf unsere bewusste und unbewusste Sicht auf die Wirklichkeit einwirken, versuchen, Alltag und Staat nach einem bestimmten Wertemuster zu organisieren. Und es ist keine Frage: Das ihnen zugrundeliegende Modell ist ein ewig gestriges. — mehr —