Die Stille zwischen den Zeilen

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 07+08_2018 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Vienna never left my heart“ (Ruth Weiss)

Wir sitzen in einem Innenstadtcafé, mein Freund, der Literat, und ich. Am Nebentisch gibt der französische Soziologe und Philosoph Didier Eribon, der mit seinen Memoiren Rückkehr nach Reims, Roman und soziologische Studie gleichermaßen, aktuell länderübergreifend Erfolge feiert, eben ein Interview. („Was schwierig war, war nicht die Homosexualität, sondern vielmehr die Tatsache, aus dem Arbeitermilieu zu kommen“, sagt er.)
Eribon ist mit Mitte 60, im besten Alter, die Aufmerksamkeit und Anerkennung, die ihm zukommt, die Aufnahme seines Werks in den Gegenwartskanon zu genießen.

„Was liest du gerade?“, fragt mich mein Freund.
„Irvin Yaloms Memoiren Wie man wird, was man ist“, antworte ich. „Sie beeindrucken in ihrer Klarheit, Unverstelltheit.“
Wann hat man zuletzt einen über 80-Jährigen in solcher Offenheit über das Abnehmen von körperlichen und geistigen Kräften reflektieren, das eigene Leben, die eigene Arbeit, individuelle und kulturelle Errungenschaften und Versäumnisse mit derart analytischer Einfachheit hinterfragen und darlegen gesehen?
Wir sprechen über das Ausloten von Wahrnehmungsvertiefungen, das kreative Schaffen über die Jahre und im hohen Alter sowie ausbleibende Öffentlichkeit: Odysseen von phänomenologischen Erkundungen und versuchten Weltaneignungen versanden oftmals unbemerkt.
Mein Freund lenkt meine Aufmerksamkeit auf eine alte Dame, mit der er eben ein Projekt vorbereitet: Ruth Weiss, geboren 1928 in Berlin, aufgewachsen in Berlin und Wien, emigriert 1938, Beat-Poetin der ersten Stunde. Sie, die zeitlebens die Avantgarde gelebt hat, erfährt nun im Alter vermehrte Resonanz, gleichsam ein literarisches Pendant zur späten Luise-Bourgeois- und Maria-Lassnig-Rezeption.

the bells are ringing/no more procastination …

Ein Youtube-Video zeigt Ruth Weiss, agil mit grün gefärbten Haaren und Fingernägeln, auf der Bühne der San Francisco Public Library:
the mask we are/the mirror reflects/reveals the real/ the past we wear/swimming in clear soup …
Begleitet werden ihre Worte von Hal Davis, der rhythmisch auf einem ausgehölten Stamm trommelt.
Momentaufnahmen des Gegenwärtigen, Blitzlichter des Vergangenen; Liebe, Verlust und Schmerz. In Weiss Texten finden sich Alltag und Geschichte(n). Als Chroniken der Absurdität der Conditio humana, getragen von Tiefgang und Humor, sind sie Zeugen einer Haltung, von Poesie als Lebensweg. Mit tiefer Stimme trägt Weiss das Poem From me to you vor:

if you have love for me/say not: „i love you“/and that will keep me free/if i have love for you/i shall not say: „i love you“/and that will keep you free …

Die durchgehende Kleinschreibung in ihrem Werk, von Anfang an, sei eine Art der persönlichen Rebellion gegen die deutsche Sprache, sagt die Poetin, einer Sprache, die sie natürlich immer noch spreche und liebe. In dem Gedicht Hall in Tyrol beschreibt Weiss die Begegnung zwischen den Geschlechtern unter veränderten Vorzeichen:
she is king of the mountain/he is queen of the castle.
Kopfüber auf ihren Kronen, versuchen die beiden lyrischen Figuren, auf dem Marktplatz das Gleichgewicht zwischen Tränen und Lachen zu halten. Mit bedächtiger Stimmer liest sie die finalen Zeilen:

… with a sprinkle of salt/they are the voice of the poem/ they are the silence between the lines …

Ruth Weiss nimmt ihre Brille ab. Sie sagt leise „Ok“, blickt mit ihren wachen Augen, die vieles wahrgenommen haben, in die Kamera, neigt den Kopf fragend und lächelt. Mein Freund und ich schauen einander an, und wir sind uns sicher: Die Gegenwart braucht Poesie.

[wina 7+8_2018]



Vermächtnis im Schatten

Architekturmodell: Hochhaus Neue Donau, Harry Seidler ©Paul Divjak

Architekturmodell: Hochhaus Neue Donau, Harry Seidler ©Paul Divjak

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 10_2023 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

Wie viele jüdische Emigrant:innen gibt es, die in ihrer ehemaligen Heimatstadt planerische Ideen verwirklichen wollten und konnten? Harry Seidler (1923–2006), ein Architekt mit gesellschaftlicher Mission, stellt eine rare Ausnahme dar.

„Harry’s buildings added something beyond the architecture of the individual building. He was very much aware of the urban importance of public spaces.“ (Norman Foster)

Neulich bin ich auf willhaben zufällig auf ein Sakko gestoßen, das mein Inter- esse geweckt hat. Nicht, weil es mich von seinem Schnitt her oder in seinem gedeckten Grau angesprochen hätte, sondern weil das im Innenfutter ein- genähte Etikett meine Aufmerksamkeit auf sich zog: „Kleiderhaus Tlapa“ stand da zu lesen, „angefertigt für Herrn Bgm. Dr. Zilk Helmuth, 23.5.1989“. – Ein Bürgermeister-Jackett aus dem Jahr des Mauerfalls! — mehr —


Akute Datenhalluzinationen

What will be left for humans?

“What will be left for humans?”, Paul Divjak unter Verwendung von DALL-E2

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 03_2023 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„AI has become a mechanism for influencing the imaginations of billions.“ 
Lev Manovich (AI-Aesthetics, 2018)

KI ist omnipräsent. Selbst dort, wo wir sie nicht wahrnehmen, prägt sie unser tägliches Leben. Wir profitieren von im Hintergrund ablaufenden Automationsprozessen und werden mit jedem neuen Schritt durch unseren digitalen Alltag geleitet, wie auch manipuliert. Das Gros von KI-basierten Systemen begleitet unsere (Online-)Interaktionen. Die KI bleibt dabei allerdings wie selbstverständlich im Verborgenen. Wir nehmen sie, nicht zuletzt durch die Mimesis des Humanen, schlicht nicht mehr wahr, vergessen sie, begrüßen die technologische Faszination, verdrängen sich manifestierende Kontrollmechanismen und möglichen Missbrauch.

Die KI bleibt dabei allerdings wie selbstverständlich im Verborgenen. Wir nehmen sie, nicht zuletzt durch die Mimesis des Humanen, schlicht nicht mehr wahr, vergessen sie, begrüßen die technologische Faszination, verdrängen sich manifestierende Kontrollmechanismen und möglichen Missbrauch. — mehr —


Alles bleibt wie´s ist

"Breaking News / Amnesia" ©Paul Divjak

“Breaking News / Amnesia” ©Paul Divjak

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 10_2019 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein!“ Kurt Tucholsky

Sie fordern unsere Aufmerksamkeit, wollen unsere Stimmen, um sich dann weiter in unnötigen Animositäten und Machtkämpfen zu verzetteln, Angst in Bezug auf Verteilungsgerechtigkeit und die Zukunft zu kreieren und geeintes Handeln in Bezug auf dringlichste, die Menschheit herausfordernden Thematiken zu verunmöglichen. Diese nicht enden wollende Polit-Nonsens-Show auf allen Kanälen ist unerträglich. — mehr —


Was für ein Anachronismus!

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 03_2018 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Der Nationalismus ist eine Ideologie, die einen Feind braucht; er kann ohne ein anderes, gegen das er sich stellt, nicht existieren, wer oder was auch immer dieses andere sein mag.“ Slavenka Drakulic

Die mediale Landschaft wird aktuell von politischer Seite mit groben Werkzeugen bearbeitet, radikalisierte Rückgriffe und sprachliche Übergriffe garantieren Aufmerksamkeitseffekte und das erwünschte Agenda-Setting.

Was aktuell Form angenommen hat, ist ein offener Kampf um die Konstruktion der Deutungshoheit. Rechtspopulistische und extreme Schachzüge, die auf unsere bewusste und unbewusste Sicht auf die Wirklichkeit einwirken, versuchen, Alltag und Staat nach einem bestimmten Wertemuster zu organisieren. Und es ist keine Frage: Das ihnen zugrundeliegende Modell ist ein ewig gestriges. — mehr —