Das, was noch nicht ist

Illustration ©Paul Divjak

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WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 10_2024 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

Texte wie diese entstehen Wochen, bevor sie gedruckt und gelesen werden. Das, was geschehen wird, ist noch nicht passiert.

„Wir können nicht für die Welt verantwortlich sein, die unseren Geist erschaffen hat, aber wir können Verantwortung für den Geist übernehmen, mit dem wir unsere Welt erschaffen.“ (Gabor Maté)

Tagesaktuelle Ereignisse, nationales und internationales Geschehen ist nicht absehbar und lässt sich somit auch nicht beziehungsweise nur sehr schwer verhandeln. Gedanken und Reflexionen können entweder dem persönlichen Erleben entspringen, essayistische Form annehmen oder allgemeiner, abstrakter formuliert werden, als (systemische) Gegenwartsanalysen größere Zusammenhänge beschreiben, längerfristige Zustände und Entwicklungen aufgreifen.

Manchmal lassen sich Entwicklungen absehen, kann Aktualität evoziert werden, zumeist aber werden Ausführungen eher hypothetisch bleiben, denn vor dem Hintergrund der laufenden Ereignisse werden sie unmittelbar zu veralteten Momentaufnahmen.

Kommendes Geschehen liegt noch in der Zukunft; ob Wahlen, Jahrestage und Kriegsereignisse – vieles hat noch nicht stattgefunden, liegt ungeschehen vor uns. In der Zwischenzeit ist vieles möglich; potenzielle Alternativen liegen vor uns – es besteht Hoffnung. Entwicklungen in Richtung einer besseren, gerechteren, friedlicheren Welt sind gegenwärtig, sind noch Option.

Texte wie diese entstehen Wochen, bevor sie gedruckt und gelesen werden. Das, was geschehen wird, ist noch nicht passiert. Zum jetzigen Zeitpunkt ha- ben Amerika und auch Österreich noch nicht gewählt. Der Wahlkampf läuft auf Hochtouren, politisches Business as usual. Spitzenpolitiker:innen treten in TV-Runden gegeneinander an, politische Lager gehen auf Konfrontation, die Medien schreiben Wahlsieger:innen herbei; es wird polemisiert, analysiert. In Österreich bedient sich ein drohender “Volkskanzler”, der sich freilich nicht mehr so nennen darf, altbekannter Muster. Ehemalige Großparteien versuchen sich trotz fortwährender interner Selbstsabotage neu zu formieren, kleinere „Bewegungen“ changieren zwischen Reform, Protest und Nonsens; demokratische Verhandlungsprozesse werden ausgelotet.

Texte wie diese entstehen Wochen, bevor sie gedruckt und gelesen werden. Das, was geschehen wird, ist noch nicht passiert. Am 7. Oktober jähren sich die unfassbaren Ereignisse des vergangenen Jahres. Immer noch befinden sich Geiseln in Haft in Gaza, täglich gibt es neue Horrormeldungen, müssen Menschen für tot erklärt werden, die Eskalation dauert an, die Fronten sind verhärteter, die Bedrohungslage prekärer denn je. Und Antisemitismus, Radikalisierung und Terrorgefahr prägen die Zeit und die Nachrichten.

Mehr Waffenlieferungen, neue Kriegsschauplätze, noch mehr Menschen auf der Flucht, Traumatisierung von Generationen. Immer öfter sterben auch junge Menschen an psychischen, kriegsbedingten Symptomen. Der Krieg in der Ukraine steht vor dem dritten Winter. Noch hat weiterer Wahnsinn der Unmenschlichkeit, haben Zerstörung von Lebenswelten, fortwährendes Töten und Folter nicht stattgefunden. Das, was weiterhin geschehen wird, ist noch nicht passiert. Es steht nicht fest, in welche Richtung wir als (Welt-)Gesellschaft gehen.

Jeder Gedanke, jeder Schritt, jede Entscheidung zählt.

[wina - 10.2024]



Radikale Beschleunigung

Spinning the World ©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 3_2017 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

“World, hold on.” Bob Sinclair

Ein neues Narrativ wird über die Vereinigten Staaten, wird über die Welt gestülpt. Es geht Schlag auf Schlag. Keine Atempause, Geschichte wird gemacht.

Der Milliardär, der sich als Homo Politicus verkleidet hat, gibt ein Tempo vor, als gälte es die Demokratie noch im ersten Firmenquartal in eine Autokratie zu verwandeln. Im Fokus: die eigenen Dividenden, jene der engsten Vertrauten und die Überzeugtheit, dass die reduzierte Darwin-Überlieferung des Survival of the Fittest ein Naturgesetz sei. — mehr —


Was bleibt sind die Dinge

Shadows & Reflections / tulipsWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 12–2019 + 01_2020 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Aufhäufen des Vergangenen auf Vergangenes geht ohne Unterbrechung fort, folgt uns jeden Augenblick.“ Henri Bergson

Am medialen Horizont: die tägliche Überdosis News aus der Welt, in der wir leben. Multipler Krisendauerausnahmezustand, ideologische Verblendungen und Polit-Backlash inklusive. Und der private Alltag geht weiter, im Überschaubaren trotz katastrophaler Schieflagen: Konsum mit mehr oder weniger gutem Gewissen und Kritik an den herrschenden Verhältnissen. — mehr —


Der Wahnsinn der Normalität

Graffiti / Tel Aviv ©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 12_2015 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Wo die Ideologie der Macht gilt, wird das Selbst von seinem inneren Kern und damit auch von den Wurzeln seiner historischen Erfahrungen abgeschnitten …“ Arno Gruen

Die täglich auf uns einwirkenden Nachrichten verändern die Wirkung von medial etablierten „Heile Welt“-Konstruktionen. Inszenierungen wie jene der Werbeindustrie scheinen immer absurder angesichts der aktuell wachsenden Transitzonen der Ungewissheit.

Seit Monaten sehen wir als Medienkonsumentinnen und -konsumenten überfüllte Schiffe, kenternde Boote, Menschen, unterwegs zu Wasser, zu Land, auf Feldwegen, Straßen, Menschen, notdürftig untergebracht in Zelten, Turnhallen, Containern. Wir sehen Kinder, die im Freien, in Kartons, schlafen. Es fehlt mitunter am Notwendigsten, an Wasser, Nahrung, Kleidung, Toilettenartikel, Dingen des Alltags. — mehr —


Auf den Spuren von Familie Freud

Fassade: Freud-Museum Shop & Café ©Paul Divjak

Fassade: Freud-Museum Shop & Café

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 01_2021 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

»Wir kennen nur den leeren Raum im Wald,
der gestern voller Bäume war.«
Anna Freud

Die knallige, phallische FREUD-Logo-Stele vor dem Haus Berggasse 19 ist verschwunden. Die Gründerzeithäuser der gegenüberliegenden Straßenseite spiegeln sich in der neuen, ausgedehnten Glasfront, über der eine Markise à la Gastgarten angebracht worden ist. Zwei große, kreisrunde Lüftungsauslässe irritieren neben einer für BesucherInnen gesperrten Wirtschaftstüre. Im ehemaligen Geschäftslokal, in dem vor einigen Jahrzehnten Boote zum Verkauf in einem Wasserbecken vor Anker lagen, befinden sich heute Café und Foyer. Ein seitlicher, in den Baukörper zurückversetzter Eingang, wirkt wie ein düsterer Hinterausgang eines erst kürzlich eröffneten Clubs, dem die Patina der Nacht noch fehlt. — mehr —