In der Stimmungsfalle

©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 12_2016 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Das Sichtbare verbirgt das Unsichtbare.“ – Pierre Bourdieu

Die Radikalisierung der Sprache, des Denkens, des Handels ist heute Alltag geworden in einem Europa, in dem medial vor allem eines regiert: das Schüren von Ängsten.

Was uns umgibt, sind Bedrohungsszenarien in Wort und Bild. Wie naheliegend sind da der Rückzug auf das Eigene, das Vertraute, das vermeintlich Immer-schon-so-Gewesene und dessen Verteidigung gegen das andere, das Fremde.

Die Medien rühren kräftig im Sud der Negativmeldungen, bedienen sich ihre Verstärkerfunktion, kochen Positionen und Ereignisse hoch, servieren uns unsere tägliche Dosis des Wahnsinns der Normalität.

In den letzten Wochen wurde medial eine „Spaltung“ der Republik heraufbeschworen. In einer unbegreiflichen Tour de Force wurden zwei Bundespräsidentenkandidaten durch die Niederungen der Medieninszenierung à la Deutschland sucht den Superstar, Starmania und Co. geschickt: Castingshows für das höchste Amt im Staate – auf allen Kanälen: Politik als Spektakel, Drama statt Diskurs.

Die TV-Formate waren allesamt dazu angetan, den letzten Respekt vor den Politikern, bei denen es sich schließlich um potenzielle Präsidenten in spe handelte, zu verlieren. Uns ZuseherInnen, so scheint es, hat man ohnehin schon lange jegliches Vermögen, uns selbst ein Bild zu machen, eine Meinung bilden zu können, abgesprochen. Wie sonst wären die umgehend bereitgestellten Daueranalysen des soeben Gesehenen und Gehörten in den Politshows zu erklären.

Reflektieren die MedienvertreterInnen ihrer eigene Rolle bisweilen noch? Gibt es so etwas wie Verantwortungsbewusstsein jenseits der Quote, jener „Sanktion des Marktes“?

Pierre Bourdieu hat bereits vor 20 Jahren darauf hingewiesen, dass das Medium Fernsehen ein Denken in „Gemeinplätzen“ begünstigt, es die Kommunikation in Versatzstücken aufgrund seiner Funktionsweise geradezu oktroyiert. „Es kann zeigen und dadurch erreichen, dass man glaubt, was man sieht […]. Das Sichtbare verbirgt das Unsichtbare.“

Fernsehen verlangt Dramatisierung, und es ist und bleibt ein Medium des Bildes, nicht der Sprache. Es ist nicht dazu angelegt, Wissen an interessierte BürgerInnen zu vermitteln, sondern Werbebotschaften an potenzielle KonsumentInnen zu verkaufen.

Jene, die undifferenziert poltern, die ein Denken in Schwarzweiß forcieren, die Angst säen, um damit Scheinpolitik zu machen, die den sorgsam gewebten Brandherd aus Sprachbildern, Vorurteilen und Nationalismen am besten bedienen und öffentlich am Schwelen halten, stets bemüht, populistische Feuer zu entfachen, sind medial freilich sehr gefragt. Sind sie es doch, die Auflagen in die Höhe schnellen, Zugriffe explodieren und Tausender-Kontakte an Werbekunden verkaufen lassen. Das Tagesgeschäft einer „funktionierenden“ Politik gibt televisionär ja wenig her: parlamentarische Anfragen, Sitzungen, Beschlüsse hinter verschlossenen Türen, Pressekonferenzen, etwas politischer Alltagshickhack. – Allesamt wenig spektakulär.

Es sind die rüpelhaften Sager, die wiederkehrenden Tabubrüche und altbekannten Tools und Tricks des österreichischen Widerbetätigungsrepertoires, die für so richtig Aufmerksamkeit und Empörung sorgen. Hiermit lässt sich gelungenes Agenda Setting betreiben, so müssen Ablenkungsmanöver inszeniert sein, die einen politischen Leuchteffekt etablieren.

Es scheint in der Natur des Menschen zu liegen, dass selbst kleinste und allerkleinste Gemeinschaften auf das Trennende fokussieren.

Ob diese oder jene Community, ob humanistische Verbände, Interessenvertretungen, Organisationen oder politische Parteien: Überall lassen sich Positionen von liberalen, progressiven Einstellungen bis hin zu wertkonservativen und von der Doxa geprägten Überzeugungen beobachten. An den Rändern der Haltungspalette aber erfährt die Radikalisierung aktuell freilich Schubkraft. Die Konstruktion der eigenen Identität mittels Feindbildern schreitet voran, sie erschwert mitunter die Fähigkeit zur uneingeschränkten Wahrnehmung der Gegenwart, einer wesentlichen Voraussetzung für engagiertes Handeln, das auf eine gemeinsame Zukunft ausgerichtet ist.

[wina - 12.2016]



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Morteratschgletscher, Winter 2022 ©Paul Divjak

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 03_2022 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Das Virus an sich offenbart eine Welt, die seit langem schon die Wirren eines tiefgreifenden Wandels verspürt.“ Jean-Luc Nancy

Wir stapfen durch das tiefverschneite Schweizer Gletschertal auf über 2.400 Höhenmetern; die Sonne scheint, vereinzelt zwitschern Vögel. Entlang der Route finden sich Wegmarken, die den Rückgang des größten Alpengletschers in der Berninergruppe im Kanton Graubünden dokumentieren: 1920, 1950, 1970, 1980, und dann in immer kürzeren Abständen bis zum Jahr 2015. Warnhinweise machen auf die Gefahr von zunehmendem Steinschlag aufgrund der Gletscherschmelze aufmerksam, und kurz darauf stehen wir auch schon vor der beeindruckenden Gletscherzunge des Morteratschgletschers. Wie ein verwundetes Wesen liegen die mächtigen blauschimmernden Eisschichten vor uns. Der Gletscher scheint weh zu klagen; deutlich ist ein auf- und abschwellendes leises Rauschen hörbar. Die gigantische Dimension der Bedrohung wird unmittelbar spürbar – so ganz anders als durch die abstrahierende Betrachtung via vergleichender Fotografien und Satellitenbildern. — mehr —


Das aufgezwungene, nackte Gesicht

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 12_2017 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

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Eine demokratische Gesellschaft, in der Kleidernormen, individuelle Ausdrucksweisen von Persönlichkeit und ihre Ausdrucksformen generell zum Tabu erklärt und unter Strafe gestellt werden, erleidet ihren eigenen Gesichtsverlust

Als Artikel 2 des von der alten Regierung unter ÖVP und SPÖ  beschlossenen neuen Integrationsgesetzes ist in Österreich also das Bundesgesetz über „das Verbot der Verhüllung des Gesichts in der Öffentlichkeit“ (in der medialen Debatte zumeist auf „Burkaverbot“ reduziert) in Kraft getreten. Im Rahmen des so genannten „Antigesichtsverhüllungsgesetzes“ ist jegliche Veränderung, jede Verdeckung und Verbergung der Gesichtszüge durch „Kleidung und andere Gegenstände“ unter Strafe gestellt. — mehr —


Umwelttrauer? Nein, danke!

"Woods" ©MUELLER-DIVJAK

“Woods” ©MUELLER-DIVJAK

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Das Rumoren der Archive

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