Im Schlund

Chanel store, Vienna ©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 5_2017 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„We´re robots, made of robots, made of robots.“ Daniel Dennett

Die so genannte Zeitlinie der Zuckerberg´schen Prosumentenplattform hält einen tagtäglich auf Trab. Schließlich gilt es, nichts zu versäumen, Klicks und Likes zu verteilen, soziales Engagement zu beweisen und ein paar persönliche Spuren zu hinterlassen. Und mitunter platzen all die kleinen Filterblasen, und wir finden uns wieder in einer Monsterbubble, in der grelle Infohäppchen aufpoppen und um unsere Aufmerksamkeit buhlen: Fakten, Fiktionen und herrschende Narrationen wirken zeitgleich auf uns ein, erzählen von einer Welt, die mit jedem Weiterscrollen das Parallelgeschehen noch absurder erscheinen lässt.

Eine Menschenmenge in Japan: Sexarbeiterinnen tragen seit dem Jahr 1977 alljährlich einen Stahlpenis durch die Straßen, um den Dämon in der Vagina zu besiegen, wie es heißt. Ein Ritual, das dem Gebet gegen sexuell übertragbare Krankheiten gilt. Es wird rosa Stangenwassereis gelutscht. Unterdessen gibt andernorts die De-facto-Präsidentin Myanmars eine Erklärung ab: Es gäbe keine ethnischen Säuberungen in ihrem Land. – Smash Cut.

Pepsi hat eine Kampagne lanciert, in der eine weiße Frau die Softdrinkrevolution mit einer Dose des sprudelnden Zuckergetränks anführt; potenzielle Polizeigewalt löst sich in Lifestyle-Wohlgefallen auf; Bombenstimmung! Logisches Resultat auf diese hanebüchene Werbeidee ist – auf gut Deutsch – ein Scheißsturm.

Die wiederkehrenden Bilder von Giftgastoten in Syrien und die widersprüchlichen Interpretationen und Reaktionen darauf sind mit dem nächsten Post auch schon wieder vergessen, denn: Siegfried kehrt ins Opernhaus Nürnberg zurück. Was in Serbien naturgemäß weniger auf Interesse stößt: Dort wird weiterhin gegen den künftigen Präsidenten demonstriert.
Nach dem Übergriff auf ein homosexuelles Paar posieren Politiker demonstrativ händchenhaltend für Fotografen. Währenddessen hat in Hessen ein 22-Jähriger beschlossen, die Sache mit der Verkehrssicherheit selbst in die Hand zu nehmen: Er malt sich einfach seine eigenen Zebrastreifen.

Die AfD ist mit einem Plakat an die Öffentlichkeit gegangen: „Wir stehen als AfD an der Seite der jüdischen Gemeinde in Deutschland.“ – Newsflash: Steve Bannon ist nun nicht mehr im nationalen Sicherheitsrat. (Unglaublich auch jenes Video: Ein Bär rettet einen Vogel vor dem Ertrinken.)

Eine vergrabene Box mit 6.000 Fotos aus dem Ghetto Łódź dokumentiert den Alltag und die Deportationen zwischen 1940 und 1944. In der Ausstellung “Memory Unearthed” ist im Museum of Fine Arts Boston derzeit eine Auswahl der Bilder von Henryk Ross zu sehen.

„We pray for the lives of the wounded and the souls of those who have passed“, sagt Präsident Trump nach dem US-Luftangriff in Syrien.
Josef Hader erzählt etwas über Erdbeerjoghurt.

In Banksys Walled Off Hotel an der Mauer in Bethlehem werden nun schon seit mehreren Wochen interessierte Gäste empfangen; eine dystopische Touristenattraktion. – Mikroplastik überall. Und: Doug Aitkens Mirror House reflektiert die Schönheit und Einsamkeit der Kalifornischen Wüste.

„Goebbels’ Sekretärin bricht ihr Schweigen“: Sie gibt ein erstes – und zugleich allerletztes – ausführliches Interview vor der Kamera, und ihr faltenzerfurchtes Gesicht in Schwarzweiß zeugt von der Kartografie inszenierter Erinnerung. Ein Deutsches Leben – Jetzt im Kino!

Popsänger Barry Manilow outet sich mit 73 Jahren. – Die Frieze Fair widmet sich diesmal übrigens den Fragen: “How important is art as a form of protest?” und „How effective is it as a conduit of change?“ – Und wo wir gerade von Kunst sprechen: Mit “Worry will vanish revelation” lädt die Schweizer Künstlerin Pipilotti Rist zur Kunstmeditation, zu einem Trip in das Sinnliche und Sublime.
Sensationsfund: In Ägypten wurde eine neue Pyramide entdeckt!

Ist unser Bewusstsein tatsächlich bloß eine Illusion? Unsere Gehirnzellen sind Roboter, die auf chemische Signale reagieren, sagt der Kognitionsforscher Daniel Dennett in einem Interview mit der BBC. Erwähnt werden sollte schließlich noch eine aktuelle Studie, die belegt: Menschenaffen können erkennen, wenn wir etwas glauben, das nicht wahr ist. – Und sie fühlen Mitleid mit uns.

[wina - 5.2017]



Holocaust-Memorial-Schrank

Öffentlicher Bücherschrank ©Paul Divjak

Öffentlicher Bücherschrank, Engadin

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 03_2021 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

»The year 1938 revealed a shameful fiasco of international diplomacy.«
Joseph Tennenbaum

Holocaust Memorial Day 2021: ein öffentlicher Bücherschrank, Bücher zur freien Entnahme; ringsum liegt tiefer Schnee. Seit Wochen haben die Buchhandlungen wie der gesamte Einzelhandel geschlossen, das öffentliche Möbel scheint wie eine bibliophile Fata Morgana, eine flirrende poetische Verheißung. Die schwere Türe, metallumrahmtes dickes Glas, öffnet sich sanft gleitend, lässt an einen riesigen Outdoor-Weinkühlschrank denken. Nahezu neue Taschenbücher, noch mit Preisschild auf dem Backcover, Bestseller vergangener Tage, feministische Literatur, antiquarische Bände, Bildbände, Nachschlagewerke, Kinderbücher; Bekanntes, Unbekanntes, Gewichtiges, Vergessenes aus verschiedenen Jahrzehnten. — mehr —


Spuren der Vergegenwärtigung

Antlantik ©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 10_2012 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

“In der Spur werden wir der Sache habhaft;
in der Aura bemächtigt sie sich unser.”
Walter Benjamin

Von Puig del Mas aus erstreckt sich die Route, die seit 2007 offiziell Walter-Benjamin-Weg genannt wird – Chemin Walter Benjamin auf der französischen, Ruta Walter Benjamin auf der spanischen Seite.

Entlang eines kleinen Flüsschens ginge es von Banyuls-sur-Mer, Richtung Puig del Mas, wo sie die obere Abzweigung genommen hätten. Über einen kleinen Parkplatz, vorbei an Einfamilienhäusern, führe der Weg in die Berge, sagt mein Freund Aaron.

Walter Benjamin sei auf seiner Flucht vor den Nazis langsam unterwegs gewesen, sehr langsam. Der 48-jährige, herzkranke Mann, von seiner Gefangenschaft und dem Exil gezeichnet, habe den beschwerlichen Weg im französisch-spanischen Grenzland mit einer schweren Aktentasche aus Leder zurückgelegt, erzählt Aaron. Diese Tasche sei sein Ein-und-alles gewesen, in ihr habe er ein Manuskript aufbewahrt, das er für wichtiger als sein Leben erachtet habe. — mehr —