Holocaust-Memorial-Schrank

Öffentlicher Bücherschrank ©Paul Divjak

Öffentlicher Bücherschrank, Engadin

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 03_2021 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

»The year 1938 revealed a shameful fiasco of international diplomacy.«
Joseph Tennenbaum

Holocaust Memorial Day 2021: ein öffentlicher Bücherschrank, Bücher zur freien Entnahme; ringsum liegt tiefer Schnee. Seit Wochen haben die Buchhandlungen wie der gesamte Einzelhandel geschlossen, das öffentliche Möbel scheint wie eine bibliophile Fata Morgana, eine flirrende poetische Verheißung. Die schwere Türe, metallumrahmtes dickes Glas, öffnet sich sanft gleitend, lässt an einen riesigen Outdoor-Weinkühlschrank denken. Nahezu neue Taschenbücher, noch mit Preisschild auf dem Backcover, Bestseller vergangener Tage, feministische Literatur, antiquarische Bände, Bildbände, Nachschlagewerke, Kinderbücher; Bekanntes, Unbekanntes, Gewichtiges, Vergessenes aus verschiedenen Jahrzehnten.
Zwischen Martin Suters Der letzte Weynfeldt, diversen Krimis, zeitgenössischen Thrillern und Landschaftsfotobänden findet sich unvermittelt ein Konvolut: Neunhundertjahre „Muttergemeinde in Israel“ Frankfurt am Main 1074–1974. Chronik der Rabbiner, herausgegeben von Paul Arnsberg, 1974; Die israelische Gesellschaft von S. N. Eisenstadt, 1973; Treblinka. La révolte d’un camp d’extermination von Jean-François Steiner mit einem Vorwort von Simone de Beauvoir, 1966; Vergangen und ausgelöscht. Erinnerungen an das slowakisch-ungarische Judentum, Eran Laor, 1972; Yad Washem Studies on the European Jewish Catastrophe and Resistance, herausgegeben von Shaul Esh, Jerusalem, 1958; sowie: Auschwitz in England. A Record of a Libel Action von Mavis M. Hill und L. Norman Williams, 1965.

Der Historiker und Autor Paul Arnsberg wurde 1899 in Frankfurt am Main geboren, emigrierte nach Palästina und kam 1958 nach Deutschland zurück. Er war unter anderem Vorstand der jüdischen Gemeinde Frankfurt (1966–1969) und Vorstand des Zentralrats der Juden (1966–1973), Arnsberg und seine Frau wollten nach Israel zurückkehren, er starb jedoch 1978.
Der Soziologe Shmuel Noah Eisenstadt wurde 1923 in Warschau geboren und starb 2010 in Jerusalem. Der Schriftsteller Jean-François Steiner wurde 1938 geboren, sein Vater 1944 in Auschwitz umgebracht, sein Tatsachenroman Treblinka. Die Revolte eines Vernichtungslagers, ein Bestseller in den späten 1960er-Jahren, gilt als umstritten.
Der Philosoph Eran Laor wurde 1900 in Cifer, Slowakei, geboren und starb 1990 in Jerusalem.
Ich schlage den Band Auschwitz in England auf und stoße, eingeschlagen in den Schutzeinband, auf einen Originalzeitungsauschnitt aus Le Monde, datiert mit: „15/7/65: LE Dr DERING médecin d’Auschwitz EST MORT À LONDRES“ …

Meine Großmutter hatte zu Lebzeiten die Angewohnheit, themenspezifische Zeitungsartikel auszuschneiden, sorgfältig zu beschriften und in Büchern, die für sie mit persönlicher Geschichte verbunden waren, zwischen Klappentext und Vorblatt einzuschlagen und aufzubewahren. Noch Jahre nach ihrem Tod sind in Büchern aus ihrer Bibliothek unvermittelt vergilbte Ausschnitte aufgetaucht, die mit handschriftlichen Notizen versehen waren.
Wem wohl all die Bände in dem winterlichen Schrank einst gehört haben mögen? Handelt es sich um Bestände einer größeren, umfassenden Bibliothek? Ist der*die Besitzer*in verstorben, und die Angehörigen haben Nachlassbruchstücke „entsorgt“? Wollte der*die Besitzerin durch sie nicht mehr an die eigene Vergangenheit oder die Familiengeschichte erinnert werden? Hat ein Nachkomme eines Kriegsverbrechers mit der Vergangenheitsbewältigung (der Vorfahren) abgeschlossen? Handelt es sich um Teile der verwendeten Literatur für eine einschlägige wissenschaftliche Arbeit, die nach Fertigstellung des Papers, der Sponsion oder Promotion nicht weiter benötigt worden ist?
„Auf der Welt ist jetzt mehr Totes als Leben“, meldete neulich das Weizmann Institute of Science und wies darauf hin, dass gegenwärtig Menschengemachtes („anthropogenic mass“) erstmals mehr wiegt als Biomasse. Allein das weltweite Plastik wiegt schwerer als alle Tiere.
Ich packe die Bücher sorgfältig ein und trage sie nach Hause; schwere Vergangenheit, menschengemacht.

[wina - 03–2021]



Das, was noch nicht ist

Illustration ©Paul Divjak

Illustration ©Paul Divjak

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 10_2024 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

Texte wie diese entstehen Wochen, bevor sie gedruckt und gelesen werden. Das, was geschehen wird, ist noch nicht passiert.

„Wir können nicht für die Welt verantwortlich sein, die unseren Geist erschaffen hat, aber wir können Verantwortung für den Geist übernehmen, mit dem wir unsere Welt erschaffen.“ (Gabor Maté)

Tagesaktuelle Ereignisse, nationales und internationales Geschehen ist nicht absehbar und lässt sich somit auch nicht beziehungsweise nur sehr schwer verhandeln. Gedanken und Reflexionen können entweder dem persönlichen Erleben entspringen, essayistische Form annehmen oder allgemeiner, abstrakter formuliert werden, als (systemische) Gegenwartsanalysen größere Zusammenhänge beschreiben, längerfristige Zustände und Entwicklungen aufgreifen. — mehr —


Das Rumoren der Archive

Zettelkasten (Literaturhaus Wien) ©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 7+8_2015 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Eine Gesellschaft, die sich eine offene und freie Zukunft wünscht, muss daher über eine Kultur verfügen, die nicht auf dem Verdrängen und Vergessen der Vergangenheit beruht …“ Mario Erdheim

Dem Vergessen und Verdrängen wird aktuell Erinnerungsarbeit entgegengesetzt. Archive werden geöffnet, das Material drängt ans Licht.

Bevor der Morzinplatz im Zuge einer Neugestaltung des Kais in naher Zukunft möglicherweise überplattet wird, „um Platz für Freizeitaktivitäten und Raum für künstlerische Gestaltung“ zu schaffen, und somit schon bald buchstäblich Gras über die immer noch klaffende Lücke gewachsen sein könnte, standen jüngst genau dort ausgedehnte Grabungsarbeiten am kollektiven Gedächtnis – oder besser am nationalen Konsensus (Susan Sontag) –, und die Auseinandersetzung mit vergessener und verdrängter Geschichte und dem allmählichen Wandel der Gedenkkultur auf dem Programm. — mehr —


Die Bilder können ja nichts dafür

Kunsthaus Zürich

Kunsthaus Zürich, Sammlung Merzbacher

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 11_2021 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

“Die Zukunft ist mir der Lebensweise der Viren näher verwandt als mit der des Menschen oder seiner Denkmäler.” Emanuele Coccia

Das offizielle Zürich ist stolz, wurde doch jüngst der Erweiterungsbau des Kunsthaus Zürich, der jahrelang für Diskussionsstoff gesorgt hatte, feierlich eröffnet. Auf dem Programm standen Previews für die Financiers und VIPs, exklusive Dinners für Vertreter:innen aus Politik, Wirtschaft und Kultur – und ein Open-House-Weekend für die Bevölkerung. Nach der obligaten Covid-Zertifikatsüberprüfung samt Identitätscheck darf das massive Portal, das anmutet wie das repräsentative Entree einer Schweizer Großbank, betreten werden. Im riesenhaften Foyer herrscht lebhaftes Getümmel – ganz großer Luxusbahnhof, Eventcharakter inklusive. Menschen drängen sich maskenlos dicht aneinander durch die hohe Eingangshalle, das massive Treppenhaus, die Ausstellungsräumlichkeiten, die endlosen Flure, vorbei an den Schätzen der Kunstgeschichte und durch die aktuelle Ausstellung Earth Beats, eine Themenschau zum Wandel des Bildes der Natur in der Kunst. — mehr —


Alles bleibt wie´s ist

"Breaking News / Amnesia" ©Paul Divjak

“Breaking News / Amnesia” ©Paul Divjak

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 10_2019 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein!“ Kurt Tucholsky

Sie fordern unsere Aufmerksamkeit, wollen unsere Stimmen, um sich dann weiter in unnötigen Animositäten und Machtkämpfen zu verzetteln, Angst in Bezug auf Verteilungsgerechtigkeit und die Zukunft zu kreieren und geeintes Handeln in Bezug auf dringlichste, die Menschheit herausfordernden Thematiken zu verunmöglichen. Diese nicht enden wollende Polit-Nonsens-Show auf allen Kanälen ist unerträglich. — mehr —