Hier ist ein Mensch, öffne die Tür

רימונים ©Paul Divjak

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 05_2021 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

»Wo sind plötzlich alle hin?
Alles weicht zurück und verschwindet
Nur die Worte schweben noch
Wohin gehen wir von hier aus, wohin?«
Avi Bellieli (Titellied „Shtisel“)

In Zeiten, in denen die Kinos seit Monaten geschlossen sind, wird mitunter der Bildschirm zur Leinwand. Die Spielfreude der Akteur*innen von Shtisel überträgt sich, die Figuren nehmen uns mit, wir tauchen ein in die Weltvermittlung sozialer Strukturen, historisch geformter Riten und Traditionen. Identitäten werden in der Gemeinschaft geformt und stehen doch immer wieder aufs Neue in Frage, sie geben Halt und lassen taumeln. Im Raster des Gesetzes der Gemeinde erfährt der/die Einzelne ambivalente Gefühle. Die humorvolle Zeichnung der eng abgesteckten Lebenswelten bildet den Rahmen, innerhalb dessen sich die Familiendarstellung bewegt und Sinnfragen gestellt werden.

Popkultur wird bisweilen zum Kult. Im Pop resakralisiere sich bis zu einem gewissen Grad der profane Alltag der westlichen Welt, stellt Caspar Battegay in Judentum und Popkultur fest. Im Falle von Shtisel verwandelt sich gleichermaßen die Inszenierung des Sakralen im Alltag in einen Streaming-Religionsersatz. Die Netflix-Gemeinde feiert die entschleunigte Erzählung, die Familiensaga begeistert in einer aus den Fugen geratenen Welt mit allegorischen Rauchzeichen aus einem scheinbar aus der Zeit gefallenen Paralleluniversum.
Vor dem Hintergrund der Ufer- und Haltlosigkeit der westlichen Gegenwart und des Unbehagens sowie der Ungewissheit angesichts aktueller Schieflagen und multikomplexer Drohszenarien ist der von strikten Vorschriften geprägte Familiensoapalltag aus Jerusalem als quasi-authentische Darstellung charedischer Lebenswelt Faszinosum mit Binge-Watching-Potenzial. Selten zuvor war das Ultraorthodoxe dermaßen hipp.

Detailreiche Stimmungsbilder, maßgeblich getragen von Blicken, Gesten und vom Klang des Hebräischen und Jiddischen entfalten einen Sog, dem sich zu entziehen schwerfällt; Episode für Episode, von Kapitel zu Kapitel. Eine Serie wie ein historischer Roman, der vom Hier und Jetzt des*der Einzelnen und seinem*ihren Eingebettetsein in die Gemeinschaft erzählt: Die Protagonist*innen folgen Identifikations(an)geboten – und sie hadern mit diesen.
Im Mikrokosmus von Setting und Narration spiegeln sich innere und äußere Widersprüche in Bezug auf eine Welt, „in der sich der Mensch allein mit sich selbst konfrontiert findet, in den Lüften wie auch am Grund der Ozeane“ (Jean-Luc Nancy).

Die Menschheit befindet sich in einer pandemischen Gegenwart, der Planet ist geprägt von kognitiven Dissonanzen hinsichtlich der Ausweglosigkeit multipler Krisen. Staatliche Territorien sind eng abgesteckt, Grenzen dichtgemacht; die Bewegungsfreiheit ist aktuell eingeschränkt, das Leben spielt sich hinter geschlossenen Türen ab. Die Zukunft wird von radikalen Veränderungen bestimmt sein.
Es ist wohl kein Zufall, dass eine Serie wie Shtisel, die mit ihren von äußeren Einflüssen erschütterten Identitäten ebenso facettenreiche wie archetypische Porträts des Menschen zeichnet, aktuell derart große Resonanz hervorruft. – „Wohin gehen wir von hier aus, wohin …?“

[wina - 05_2021]



Alles bleibt wie´s ist

"Breaking News / Amnesia" ©Paul Divjak

“Breaking News / Amnesia” ©Paul Divjak

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 10_2019 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein!“ Kurt Tucholsky

Sie fordern unsere Aufmerksamkeit, wollen unsere Stimmen, um sich dann weiter in unnötigen Animositäten und Machtkämpfen zu verzetteln, Angst in Bezug auf Verteilungsgerechtigkeit und die Zukunft zu kreieren und geeintes Handeln in Bezug auf dringlichste, die Menschheit herausfordernden Thematiken zu verunmöglichen. Diese nicht enden wollende Polit-Nonsens-Show auf allen Kanälen ist unerträglich. — mehr —


Radikale Beschleunigung

Spinning the World ©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 3_2017 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

“World, hold on.” Bob Sinclair

Ein neues Narrativ wird über die Vereinigten Staaten, wird über die Welt gestülpt. Es geht Schlag auf Schlag. Keine Atempause, Geschichte wird gemacht.

Der Milliardär, der sich als Homo Politicus verkleidet hat, gibt ein Tempo vor, als gälte es die Demokratie noch im ersten Firmenquartal in eine Autokratie zu verwandeln. Im Fokus: die eigenen Dividenden, jene der engsten Vertrauten und die Überzeugtheit, dass die reduzierte Darwin-Überlieferung des Survival of the Fittest ein Naturgesetz sei. — mehr —


Abschied von Altausee

Altaussee ©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 9_2012 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

“Im Schweigen hinter uns
hören wir nicht mehr die fernferne
Frage vom Sommerhaus”
John Berger

Das Gewitter der letzten Stunden hat sich verzogen. Bodennebel liegt über dem See, der nun still vor uns liegt.

Auf einer Plätte, die sarggleich auf dem Wasser schwimmt, spielt eine Blasmusikkapelle melancholisch-heimatliche Weisen. Die Trachtenklänge in Moll legen sich über die Wasseroberfläche, dringen ans Ufer, dringen durch die Fenster der umliegenden Häuser, in die Ritzen der Vergangenheit.

Wir sitzen auf der Veranda, trinken Kaffee, lauschen dem unerwarteten Konzert; ringsum die alte Bergwelt. — mehr —


Im Schlund

Chanel store, Vienna ©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 5_2017 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„We´re robots, made of robots, made of robots.“ Daniel Dennett

Die so genannte Zeitlinie der Zuckerberg´schen Prosumentenplattform hält einen tagtäglich auf Trab. Schließlich gilt es, nichts zu versäumen, Klicks und Likes zu verteilen, soziales Engagement zu beweisen und ein paar persönliche Spuren zu hinterlassen. Und mitunter platzen all die kleinen Filterblasen, und wir finden uns wieder in einer Monsterbubble, in der grelle Infohäppchen aufpoppen und um unsere Aufmerksamkeit buhlen: Fakten, Fiktionen und herrschende Narrationen wirken zeitgleich auf uns ein, erzählen von einer Welt, die mit jedem Weiterscrollen das Parallelgeschehen noch absurder erscheinen lässt. — mehr —