Die Zeit der Zeitfenster

Futurium ©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 1_2019 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Buchen sie ein Zeitfenster!“ –
Willkommen in der Kultur der Masse,
des Spektakels und der Effizienz.

Haben sie ein Zeitfenster? – Sie brauchen ein Zeitfenster-Ticket“, sagt der rothaarige Museumsmitarbeiter mit der Kippa. Über Umwege stehe ich dann kurz darauf in James Turells Installation Ganzfeld „Aural‘“ im Jüdischen Museum in Berlin. Einen „gleichsam überirdischen Raum, der die Regeln der weltlichen Erfahrung außer Kraft zu setzen scheint“ hätte Turell, der „Bildhauer des Lichts“, geschaffen, heißt es auf dem Flyer, der mit in die Hand gedrückt wurde.
Was in der zeitgenössischen Kunst gemeinhin als Immersion gepriesen wird, entpuppt sich im Rahmen der Installation als physisch klar begrenzte räumliche Situation. Nachdem man die Schuhe ausgezogen und seine Füße mit blauen Einwegplastiküberzügen verhüllt hat, steigt man die Treppen hoch und betritt durch ein Portal eine leere Guckkastenbühne.
Der Boden, die Wände, die Decke: allesamt in monochromes Licht getaucht, das sanft die Farbe wechselt, bisweilen nervös zuckt. Setzt man seine Schritte allerdings zu nahe an die Stirnwand, ist ein deutlicher Piepston zu vernehmen, der zu sagen scheint: Bewegen Sie sich gefälligst in den Ihnen zugedachten Sektoren. Im Rahmen des installativen Reizentzuges werden wir also klar in unsere Schranken verwiesen. Art-Anderswelt ist so anders nicht. Die BesucherInnen sind angehalten, sich an den abgesteckten Rahmen der Inszenierung zu halten. Die optimale Entfaltung der Kunst bedeutet die Einschränkung unserer Bewegungsfreiheit.
„Licht ist zentrales Symbol im Judentum“, ist auf einem Vermittlungswandtext zu lesen. Und die Arbeiten Turells könnten „als eine der spektakulärsten künstlerischen Interpretationen der Erschaffung des Lichts angesehen werden“.
Während das Publikum in der Installation das ihnen gewährte Zeitkontingent im künstlichen Licht erschöpft, genießen andere BesucherInnen die letzten Sonnenstrahlen im Museumsgarten. Der Countdown läuft; der lange graue Winter Berlins steht vor der Türe.
Auch in Wien setzt man auf Tickets inklusive Zeitfenster, die exakte Taktung der Blockbuster-Besucherströme, wie die aktuelle Bruegel-Megashow im Kunsthistorischen Museum zeigt. (Im Rahmen des von Wes „Hollywood!“ Anderson und Juman Malouf inszenierten Best-Of Spitzmaus Mummy in a Coffin and other Treasures finden sich hingegen noch herkömmliche Eintrittsschlupflöcher in den besagten Museumstanker.)

Fungierten die Museen einst selbst als eine Art Zeitfenster, als Ort der Geschichte(n) der möglichen Kontemplation und Reflexion, erzählten die Objekte und ihre Befragung von Vergangenheit und Gegenwart, so deutet die Verwendung des Begriffs „Zeitfenster“, ursprünglich in Technik und Betriebswirtschaft beheimatet, im musealen Kontext von Abwicklung und Verwaltung der (Massen-)Kultur und von der Praxis des gesellschaftlichen Umgangs mit Zeit und Ressourcen.
Wir absolvieren Termine, haken To-do-Listen ab, arbeiten auf Deadlines hin, im Sinne von Leistung und Produktivität gilt es, agil zu performen, Sprints hinzulegen und Showstopper zu vermeiden. – Nur logisch, dass heute selbst der Museumsbesuch über Zeitfenster organisiert ist.
Rund um die Uhr beschäftigt, bestimmen Leistungs-, Zeitdruck und Stress unseren Alltag; Arbeit und Freizeit. Und vor dem Hintergrund von lautem medialen Dauergetöse und um unsere Aufmerksamkeit heischenden Ablenkungen, von unsäglichen politischen Überzeugungen und Hassreden, zweifelhaften ökonomischen Interessen und menschenverachtendem Handeln öffnen sich immer weitere, immer noch tiefere Abgründe, während sich essentielle, die Weltgemeinschaft betreffende Zeitfenster zu schließen drohen.

[wina 1_2019]



Die Bilder können ja nichts dafür

Kunsthaus Zürich

Kunsthaus Zürich, Sammlung Merzbacher

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 11_2021 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

“Die Zukunft ist mir der Lebensweise der Viren näher verwandt als mit der des Menschen oder seiner Denkmäler.” Emanuele Coccia

Das offizielle Zürich ist stolz, wurde doch jüngst der Erweiterungsbau des Kunsthaus Zürich, der jahrelang für Diskussionsstoff gesorgt hatte, feierlich eröffnet. Auf dem Programm standen Previews für die Financiers und VIPs, exklusive Dinners für Vertreter:innen aus Politik, Wirtschaft und Kultur – und ein Open-House-Weekend für die Bevölkerung. Nach der obligaten Covid-Zertifikatsüberprüfung samt Identitätscheck darf das massive Portal, das anmutet wie das repräsentative Entree einer Schweizer Großbank, betreten werden. Im riesenhaften Foyer herrscht lebhaftes Getümmel – ganz großer Luxusbahnhof, Eventcharakter inklusive. Menschen drängen sich maskenlos dicht aneinander durch die hohe Eingangshalle, das massive Treppenhaus, die Ausstellungsräumlichkeiten, die endlosen Flure, vorbei an den Schätzen der Kunstgeschichte und durch die aktuelle Ausstellung Earth Beats, eine Themenschau zum Wandel des Bildes der Natur in der Kunst. — mehr —


Radikale Beschleunigung

Spinning the World ©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 3_2017 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

“World, hold on.” Bob Sinclair

Ein neues Narrativ wird über die Vereinigten Staaten, wird über die Welt gestülpt. Es geht Schlag auf Schlag. Keine Atempause, Geschichte wird gemacht.

Der Milliardär, der sich als Homo Politicus verkleidet hat, gibt ein Tempo vor, als gälte es die Demokratie noch im ersten Firmenquartal in eine Autokratie zu verwandeln. Im Fokus: die eigenen Dividenden, jene der engsten Vertrauten und die Überzeugtheit, dass die reduzierte Darwin-Überlieferung des Survival of the Fittest ein Naturgesetz sei. — mehr —


Das Rumoren der Archive

Zettelkasten (Literaturhaus Wien) ©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 7+8_2015 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Eine Gesellschaft, die sich eine offene und freie Zukunft wünscht, muss daher über eine Kultur verfügen, die nicht auf dem Verdrängen und Vergessen der Vergangenheit beruht …“ Mario Erdheim

Dem Vergessen und Verdrängen wird aktuell Erinnerungsarbeit entgegengesetzt. Archive werden geöffnet, das Material drängt ans Licht.

Bevor der Morzinplatz im Zuge einer Neugestaltung des Kais in naher Zukunft möglicherweise überplattet wird, „um Platz für Freizeitaktivitäten und Raum für künstlerische Gestaltung“ zu schaffen, und somit schon bald buchstäblich Gras über die immer noch klaffende Lücke gewachsen sein könnte, standen jüngst genau dort ausgedehnte Grabungsarbeiten am kollektiven Gedächtnis – oder besser am nationalen Konsensus (Susan Sontag) –, und die Auseinandersetzung mit vergessener und verdrängter Geschichte und dem allmählichen Wandel der Gedenkkultur auf dem Programm. — mehr —


Destination Wien 2015

Wien; Heldenplatz (2013) ©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 5_2015 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

Wien scheint immer noch unter einer Glocke der denkmalgeschützten Historie zu schlummern. – Bisweilen aber erschließen sich auch in der Erinnerungskultur erweiterte, neue Perspektiven.

Die Tage rumorte es wieder einmal im Archiv; das Video Heldenplatz, 1973 kursierte im Netz, zog seine Spur durch die sozialen Plattformen. Zum Vorschein kam eine nur auf den ersten Blick unscheinbare ORF-Interviewserie, entstanden Anfang der Neunzehnsiebzigerjahre auf dem Wiener Heldenplatz. Was sich als alpenländische Tableaux Vivants vor dem Hintergrund des historischen Ortes auftat, hätte prototypische Alltagsfaschismusfolie für Qualtingers „Herrn Karl“ oder Thomas Bernhards 1989 uraufgeführtes gleichnamiges Theaterstück sein können. — mehr —