Die Bilder können ja nichts dafür

Kunsthaus Zürich

Kunsthaus Zürich, Sammlung Merzbacher

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 11_2021 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

“Die Zukunft ist mir der Lebensweise der Viren näher verwandt als mit der des Menschen oder seiner Denkmäler.” Emanuele Coccia

Das offizielle Zürich ist stolz, wurde doch jüngst der Erweiterungsbau des Kunsthaus Zürich, der jahrelang für Diskussionsstoff gesorgt hatte, feierlich eröffnet. Auf dem Programm standen Previews für die Financiers und VIPs, exklusive Dinners für Vertreter:innen aus Politik, Wirtschaft und Kultur – und ein Open-House-Weekend für die Bevölkerung. Nach der obligaten Covid-Zertifikatsüberprüfung samt Identitätscheck darf das massive Portal, das anmutet wie das repräsentative Entree einer Schweizer Großbank, betreten werden. Im riesenhaften Foyer herrscht lebhaftes Getümmel – ganz großer Luxusbahnhof, Eventcharakter inklusive. Menschen drängen sich maskenlos dicht aneinander durch die hohe Eingangshalle, das massive Treppenhaus, die Ausstellungsräumlichkeiten, die endlosen Flure, vorbei an den Schätzen der Kunstgeschichte und durch die aktuelle Ausstellung Earth Beats, eine Themenschau zum Wandel des Bildes der Natur in der Kunst.

Auf den lichtdurchfluteten Ebenen des neuen Museumsmonolithen wimmelt es geschäftig; Familien mit Kindern, unterschiedliche Paare verschiedenen Alters, Damen und Herren im Sonntagsoutfit – Menschen von nah und fern. Die Besucher:innen schauen sich um, verharren angesichts der Dimensionen und Impressionen, führen angeregte Diskussionen. Einmal mehr wäre das MoMa Vorbild gewesen, hätte die museale Schablone gebildet, hört man hier, und dort wird festgestellt, dass alte, gelungen adaptierte Industriebauten à la Tate Modern einfach doch noch einmal andere Dimensionen hätten und eine ganz spezielle Aura verströmen würden. Dauerhafter Gratiseintritt für alle, wie im Museum an der Themse, das wäre wünschenswert gewesen, stellen zwei elegante Damen fest. Die Chipperfield-Architektur und die verwendeten erlesenen Materialien werden unter die Lupe genommen und genauer reflektiert: Marmor- und Eichenböden, Messingverkleidungen und -handläufe und die obligaten Rohbetonwände.

Auch das dauerhafte Aufeinandertreffen der bedeutenden Sammlung des Ehepaars Merzbacher und der Sammlung Bührle im nunmehr größten Kunstmuseum der Schweiz ist ein Thema. Auf der einen Seite: die Werke aus dem Besitz von Werner Merzbacher, der mit einem Kindertransport in die Schweiz kam und dessen Eltern im Holocaust ermordet wurden. Auf der anderen: die aus den Beständen von Emil Bührle (1890–1956), einem Waffenindustriellen mit Naziverstrickung, dessen Impressionisten-Highlights nun laut Kunsthaus „einen Quantensprung im Bereich der Sammlung“ darstellen würden. – Und das mit einem Spin in Sachen Provenienzfragwürdigkeit.Zu Bührle finden sich in einem Vermittlungsraum des neuen Hauses Wandtexte mit dem Lebenslauf in Kapiteln. Hier heißt es unter anderem: „Gegen Ende des Krieges verdichten sich die Nachrichten vom deutschen Kunstraub im besetzten Frankreich, und Emil Bührle wird bei Käufen vorsichtiger.“ Der heute 93-jährige Werner Merzbacher hingegen wird gerne mit den lapidaren Worten „Die Bilder können ja nichts dafür“ zitiert.

Die einzigartige Schönheit der Bilder hat ihren Preis. Er erzählt vom Spannungsfeld von Kunst, Politik und Wirtschaft, in das sich Leben und Überleben, Krieg, Vernichtung, Tod und Profit einschreiben.

Hinter der schimmernden, hochpolierten Fassade, der pompösen Inszenierung von kunst- und kulturbasierendem Humanismus, dem zivilisierten Schein der Ästhetisierung von Alltag durch Vermögen sowie dem Wunsch nach einem gewaltigen Vermächtnis und dem Standortbegehren nach Weltformat, zeichnet sich unter einem gemeinsamen Dach das Drama der Geschichte ab.
Das der Kunsthistorie gewidmete neue Schatzhaus scheint zu einem impressiven Symbol für den ambivalenten Umgang mit der NS-Zeit – gerade auch der Schweiz – geworden zu sein: Es ist gleichsam Kathedrale der Kunst wie monumentaler Sarkophag ihrer kryptischen Einverleibung, Spiegelbild einer Gesellschaft und ihrer ästhetischen Errungenschaften und menschlichen Abgründe.

[wina - 11–2021]



Das Rumoren der Archive

Zettelkasten (Literaturhaus Wien) ©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 7+8_2015 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Eine Gesellschaft, die sich eine offene und freie Zukunft wünscht, muss daher über eine Kultur verfügen, die nicht auf dem Verdrängen und Vergessen der Vergangenheit beruht …“ Mario Erdheim

Dem Vergessen und Verdrängen wird aktuell Erinnerungsarbeit entgegengesetzt. Archive werden geöffnet, das Material drängt ans Licht.

Bevor der Morzinplatz im Zuge einer Neugestaltung des Kais in naher Zukunft möglicherweise überplattet wird, „um Platz für Freizeitaktivitäten und Raum für künstlerische Gestaltung“ zu schaffen, und somit schon bald buchstäblich Gras über die immer noch klaffende Lücke gewachsen sein könnte, standen jüngst genau dort ausgedehnte Grabungsarbeiten am kollektiven Gedächtnis – oder besser am nationalen Konsensus (Susan Sontag) –, und die Auseinandersetzung mit vergessener und verdrängter Geschichte und dem allmählichen Wandel der Gedenkkultur auf dem Programm. — mehr —


Abschied von Altausee

Altaussee ©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 9_2012 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

“Im Schweigen hinter uns
hören wir nicht mehr die fernferne
Frage vom Sommerhaus”
John Berger

Das Gewitter der letzten Stunden hat sich verzogen. Bodennebel liegt über dem See, der nun still vor uns liegt.

Auf einer Plätte, die sarggleich auf dem Wasser schwimmt, spielt eine Blasmusikkapelle melancholisch-heimatliche Weisen. Die Trachtenklänge in Moll legen sich über die Wasseroberfläche, dringen ans Ufer, dringen durch die Fenster der umliegenden Häuser, in die Ritzen der Vergangenheit.

Wir sitzen auf der Veranda, trinken Kaffee, lauschen dem unerwarteten Konzert; ringsum die alte Bergwelt. — mehr —


Auf der Suche nach neuen Erzählungen

"Lichtgrenze" beim Brandenburger Tor, Berlin (anläßlich 25 Jahre Mauerfall) ©Paul Divjak

“Lichtgrenze”, Berlin (2014)

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 5_2016 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Tomorrows unitary world is in need of transcendence and liberation from a thinking in opposites.“ George Czuczka

Weltanschauungen lassen sich nicht verordnen. Aber es lassen sich gesellschaftliche Bedingungen schaffen, die zur Veränderung von tradiertem, vorurteilsbehaftetem Denken beitragen.

Wir sind überinformiert – und empfinden uns zunehmend als machtlos. Entscheidet man sich für den Medienkonsum, lassen einem Quantität und Komplexität des real existierenden Wahnsinns keine Verschnaufpause. Und die schlimmsten Bilder erreichen unser Bewusstsein gar nicht mehr. — mehr —


GLEICHZEITIGKEITEN

Morteratschgletscher, Winter 2022 ©Paul Divjak

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 03_2022 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Das Virus an sich offenbart eine Welt, die seit langem schon die Wirren eines tiefgreifenden Wandels verspürt.“ Jean-Luc Nancy

Wir stapfen durch das tiefverschneite Schweizer Gletschertal auf über 2.400 Höhenmetern; die Sonne scheint, vereinzelt zwitschern Vögel. Entlang der Route finden sich Wegmarken, die den Rückgang des größten Alpengletschers in der Berninergruppe im Kanton Graubünden dokumentieren: 1920, 1950, 1970, 1980, und dann in immer kürzeren Abständen bis zum Jahr 2015. Warnhinweise machen auf die Gefahr von zunehmendem Steinschlag aufgrund der Gletscherschmelze aufmerksam, und kurz darauf stehen wir auch schon vor der beeindruckenden Gletscherzunge des Morteratschgletschers. Wie ein verwundetes Wesen liegen die mächtigen blauschimmernden Eisschichten vor uns. Der Gletscher scheint weh zu klagen; deutlich ist ein auf- und abschwellendes leises Rauschen hörbar. Die gigantische Dimension der Bedrohung wird unmittelbar spürbar – so ganz anders als durch die abstrahierende Betrachtung via vergleichender Fotografien und Satellitenbildern. — mehr —