Alles bleibt wie´s ist

"Breaking News / Amnesia" ©Paul Divjak

“Breaking News / Amnesia” ©Paul Divjak

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 10_2019 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein!“ Kurt Tucholsky

Sie fordern unsere Aufmerksamkeit, wollen unsere Stimmen, um sich dann weiter in unnötigen Animositäten und Machtkämpfen zu verzetteln, Angst in Bezug auf Verteilungsgerechtigkeit und die Zukunft zu kreieren und geeintes Handeln in Bezug auf dringlichste, die Menschheit herausfordernden Thematiken zu verunmöglichen. Diese nicht enden wollende Polit-Nonsens-Show auf allen Kanälen ist unerträglich. Die Politikerdarsteller sind präsentationsgeschult und optimal gebrieft, und doch spielen sie ihre Rollen schlecht. Womit haben wir als Gesellschaft(en) derart verantwortungslose Vertreter verdient? Ändert sich ab und an auch ein öffentliches Gesicht, Duktus und Programm bleiben dasselbe, historische Unbedarftheit und mangelndes systemisch-holistisches Denken inklusive.
Was im täglichen Demokratiebetrieb zum Ausdruck kommt und mit Stolz vor die Kamera tritt, sind aalglatte Politikerschablonen, die Unsagbares, Dreistes und Falsches von sich zu geben im Stande sind, als wär’s die Wahrheit und nichts als die Wahrheit.
Die temporär agierenden parteipolitischen Platzhalter vertreten vorgeblich Interessen der Allgemeinheit, behaupten, im Namen des „Volkes“ zu agieren, und haben doch nur die eigene Karriere, strategische Postenvergaben, orchestrierte Geldflüsse und die Interessen von Big Money vor Augen. Perfekte Oberflächen für dreiste Lügen liegen voll im Trend.
Kurzsichtigkeit rules; griffige Behauptungen, paradoxe Interventionen und per de Backlashes dominieren das mediatisierte Bild jener Akteure, denen so gar nicht bewusst zu sein scheint, wie sehr sie mit ihrem Verhalten konsensuale Grundfesten, wie die unabhängigen Medien als „vierte Gewalt“ im Staat, unterwandern, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in politische Vertreter erschüttern und demokratiepolitischen Prozessen schaden.
Nach der Wahl ist vor der Wahl. Es ist ganz egal. Die kolportierten Politikerphrasen sind so hohl wie die geschönten Images. Der simplifizierte, provokante Sager, die als strategisches Spielfeld missbrauchte Medienland- schaft: Man muss kein so genannter Verschwörungstheoretiker sein, nicht obskuren Zirkeln angehören, die Mainstreammedien per se zum Feindbild erklärt haben, um festzustellen, dass das Ausmaß an nicht mehr decodierbaren Messages sowie die dahinterliegenden Interessen beziehungsweise die zu verbergenden Tatsachen unüberschaubar geworden ist. Blendwerk wohin wir auch blicken: Unsere täglichen News-Schnipsel, gebt uns heute.
Die Themenfelder überlagern einander. Hier eine Krise, dort eine Krise, und dazwischen: das Rauschen einer Tagespolitik, die zu kurz greift. Respektlosigkeit, Dreistigkeit und fragwürdige Verantwortungslosigkeit zeitigen Auswüchse, die Erregungspotenzial entfachen und beim nächsten Klick auch schon von einem neuen Wahnsinnssager überlagert werden. Datenschichtbetrieb 24/7. Keine Ausweitung des Denkhorizonts, Verstärkerhypothese im Endlosloop.
Simple Botschaften werden platziert, falsche Fährten gelegt, Stimmung wird gemacht: Die Politikerdarsteller und ihre PR-Stäbe beherrschen die Setzung des richtigen Stimulus. Die Partizipation der Frustration auf Seiten der vernetzten Allgemeinheit greift Bilder und Slogans auf, produziert lustige Meme, macht sich in aufgeschaukeltem, prolongiertem Schwarz-weiß-Denken Luft.
Während die Politpuppen tanzen und vorgeben, unsere Sprache zu sprechen, schmelzen die Gletscher, brennt die Welt, verlieren Menschen ihre Lebensgrundlagen und Hoffnung. Und wir zelebrieren kognitive Dissonanz, produzieren wie gehabt, konsumieren und plastifizieren die Meere und Böden und machen uns vor, die katastrophalen Auswirkungen des Anthropozäns beträfen uns (noch lange) nicht.

[wina 10_2019]



R.I.P

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 10_2017 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„I’m walking through deep water / I have no time to lose …“ Arthur Cave (2000-2015)

Ganz allgemein ist vom Verdrängen des Todes in unserer Kultur die Rede, dabei haben wir es auf der einen Seite mit einer Privatisierung des Sterbens und der professionalisierten, institutionalisierten Verwaltung des Todes und auf der anderen mit einer dauerhaften Präsenz des mediatisierten Sterbens zu tun.

Die Meldungen über Krieg, Terror, menschengemachte und naturbedingte Katastrophen, Flüchtlingselend und Hungersnöte gehören zum Medienalltag; der beständige Todes-Nachrichtenfluss kratzt an unseren Wahrnehmungsfiltern.

Der Tod ist allgegenwärtig in Nachrichten, Filmen, Games und Co.; die Unterhaltungsindustrie ist gerade zu besessen von Inszenierungen der Gewalt, des Kämpfens, Tötens und Sterbens. Und uns KonsumentInnen sind diese Repräsentationen des Todes wohl gleichsam Nervenkitzel und willkommener Bann, ganz so als ließe sich, – gleich einem techno-schamanistischen Schutzzauber –, der eigenen Sterblichkeit – zumindest eine Zeitlang – ein Schnippchen schlagen, die Todesangst ein wenig besänftigen. — mehr —


Zum hundertsten Mal

Skizze aus Frank Kafkas Tagebuch, 1910

Faksimile: Franz Kafka, Tagebuch 1910

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 5_2024 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

Im Juni jährt sich Franz Kafkas Todestag zum hundertsten Mal. Das runde Jubiläum sorgt für eine wahre mediale Kafka-Schwemme: Auf allen Kanälen wird es noch kafkaesker.

„Es war ein schöner Tag und K. wollte spazieren gehen. Kaum aber hatte er zwei Schritte gemacht, war er schon auf dem Friedhof.“ Franz Kafka

Eine Fülle an Neuerscheinungen widmet sich dem Schriftsteller, seinem Werk und möglichen Lesarten. Bildbände zeigen bisher unveröffentlichte Fotodokumente, alte Spuren werden aufgegriffen, neue aufgenom- men, Originalhandschriften kommentiert, Briefwechsel erläutert, Werkausgaben und Inhaltsangaben veröffentlicht. Der Schriftsteller, sein kurzes Leben und sein Œuvre werden konsequent weiter analysiert und seziert; es hagelt Dubletten und Erhellendes, Fortschreibung der Themenkomplexe: Kafka und das Judentum, Kafka und der Frühkapitalismus, Kafka und die Frauen, Kafka und der Weltschmerz, Kafka und das zentrale, alles prägende Motiv des um das Leben Schreibens (Rüdiger Safranski). — mehr —


Was für ein Anachronismus!

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 03_2018 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Der Nationalismus ist eine Ideologie, die einen Feind braucht; er kann ohne ein anderes, gegen das er sich stellt, nicht existieren, wer oder was auch immer dieses andere sein mag.“ Slavenka Drakulic

Die mediale Landschaft wird aktuell von politischer Seite mit groben Werkzeugen bearbeitet, radikalisierte Rückgriffe und sprachliche Übergriffe garantieren Aufmerksamkeitseffekte und das erwünschte Agenda-Setting.

Was aktuell Form angenommen hat, ist ein offener Kampf um die Konstruktion der Deutungshoheit. Rechtspopulistische und extreme Schachzüge, die auf unsere bewusste und unbewusste Sicht auf die Wirklichkeit einwirken, versuchen, Alltag und Staat nach einem bestimmten Wertemuster zu organisieren. Und es ist keine Frage: Das ihnen zugrundeliegende Modell ist ein ewig gestriges. — mehr —


Hier ist ein Mensch, öffne die Tür

רימונים ©Paul Divjak

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 05_2021 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

»Wo sind plötzlich alle hin?
Alles weicht zurück und verschwindet
Nur die Worte schweben noch
Wohin gehen wir von hier aus, wohin?«
Avi Bellieli (Titellied „Shtisel“)

In Zeiten, in denen die Kinos seit Monaten geschlossen sind, wird mitunter der Bildschirm zur Leinwand. Die Spielfreude der Akteur*innen von Shtisel überträgt sich, die Figuren nehmen uns mit, wir tauchen ein in die Weltvermittlung sozialer Strukturen, historisch geformter Riten und Traditionen. Identitäten werden in der Gemeinschaft geformt und stehen doch immer wieder aufs Neue in Frage, sie geben Halt und lassen taumeln. Im Raster des Gesetzes der Gemeinde erfährt der/die Einzelne ambivalente Gefühle. Die humorvolle Zeichnung der eng abgesteckten Lebenswelten bildet den Rahmen, innerhalb dessen sich die Familiendarstellung bewegt und Sinnfragen gestellt werden. — mehr —