Spuren der Vergegenwärtigung

Antlantik ©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 10_2012 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

“In der Spur werden wir der Sache habhaft;
in der Aura bemächtigt sie sich unser.”
Walter Benjamin

Von Puig del Mas aus erstreckt sich die Route, die seit 2007 offiziell Walter-Benjamin-Weg genannt wird – Chemin Walter Benjamin auf der französischen, Ruta Walter Benjamin auf der spanischen Seite.

Entlang eines kleinen Flüsschens ginge es von Banyuls-sur-Mer, Richtung Puig del Mas, wo sie die obere Abzweigung genommen hätten. Über einen kleinen Parkplatz, vorbei an Einfamilienhäusern, führe der Weg in die Berge, sagt mein Freund Aaron.

Walter Benjamin sei auf seiner Flucht vor den Nazis langsam unterwegs gewesen, sehr langsam. Der 48-jährige, herzkranke Mann, von seiner Gefangenschaft und dem Exil gezeichnet, habe den beschwerlichen Weg im französisch-spanischen Grenzland mit einer schweren Aktentasche aus Leder zurückgelegt, erzählt Aaron. Diese Tasche sei sein Ein-und-alles gewesen, in ihr habe er ein Manuskript aufbewahrt, das er für wichtiger als sein Leben erachtet habe.

Von Puig del Mas aus erstreckt sich die Route, die seit 2007 offiziell Walter-Benjamin-Weg genannt wird – Chemin Walter Benjamin auf der französischen, Ruta Walter Benjamin auf der spanischen Seite –, ausgehend von einem kleinen Parkplatz, vorbei an Gestrüpp, Olivenbäumen und Weinreben ins Bergland der Pyrenäen.

Über Felsen und Bergmassiv seien er und seine Frau in der Nachmittagshitze dem Pfad, der den Verlauf des Fluchtweges des Philosophen nachzeichnet, gefolgt.
Auf Benjamins Spuren, verschränke sich die Schönheit der Landschaft, die Farben und Gerüche der Natur mit dem Bewusstsein über die Verzweiflung des vor seinen Verfolgern Flüchtenden, sagt Aaron.

„Spur und Aura. Die Spur ist Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was sie hinterließ. Die Aura ist Erscheinung einer Ferne, so nah das sein mag, was sie hervorruft. In der Spur werden wir der Sache habhaft; in der Aura bemächtigt sie sich unser“, schreibt Walter Benjamin in seinem Passagen Werk.

Die Hänge seien steiler geworden, der Boden trockener; die Anmutung rauer. Weiter sei es durch einen lichten Wald, über den Gebirgspass gegangen. Nach Überwindung etlicher Höhenmeter, über Stock und Stein, in der Tiefe, im Rücken: das Blau des Meeres, sei in der Ferne Portbou aufgetaucht. – Der Ort, von dem sich Benjamin rettende Sicherheit versprochen habe.

Nach insgesamt rund drei Stunden Fußmarsch seien sie schließlich am Ziel angelangt, sagt Aaron.

Benjamin habe wohl um etliches länger gebraucht, um Portbou zu erreichen. In regelmäßigen Abständen habe er rasten, eine ganze Nacht im unwegsamen Gelände zubringen müssen.

Über die letzten Stunden des Philosophen wisse man kaum etwas, äußerst widersprüchlich seien die Informationen, sagt Aaron.

Faktum ist, dass Benjamin sich, in Todesangst vor der Ergreifung und Gefahr der Auslieferung, in der Nacht zum 27. September 1940 im Hostal de Francia das Leben genommen hat.

Von dem Manuskript, das er bei sich getragen hatte, fehlt seither jede Spur.

In Portbou erinnere heute, die neben dem lokalen Friedhof errichtete, vom israelischen Bildhauer Dani Karavan gestaltete, begehbare Skulptur „Passages“ an den Verstorbenen. Es handele sich dabei um eine Art Korridor, ein tunnelartiges Monument aus verwittertem Stahl, in dessen Innerem Treppen in die Tiefe führen, hinunter zum Wasser.

„Nicht so ist es, dass das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige sein Bild auf das Vergangene wirft, sondern Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt“, schreibt Benjamin an anderer Stelle im Passagen Werk.

Aaron und seine Frau haben in der Flucht dieser Gedenkstätte gestanden und mit einem Mal sei die Dimension jenes persönlichen Dramas erahnbar geworden; vor ihnen: das Meer.

[Erschienen in: wına | Oktober 2012]



Die Stille zwischen den Zeilen

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 07+08_2018 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Vienna never left my heart“ (Ruth Weiss)

Wir sitzen in einem Innenstadtcafé, mein Freund, der Literat, und ich. Am Nebentisch gibt der französische Soziologe und Philosoph Didier Eribon, der mit seinen Memoiren Rückkehr nach Reims, Roman und soziologische Studie gleichermaßen, aktuell länderübergreifend Erfolge feiert, eben ein Interview. („Was schwierig war, war nicht die Homosexualität, sondern vielmehr die Tatsache, aus dem Arbeitermilieu zu kommen“, sagt er.)
Eribon ist mit Mitte 60, im besten Alter, die Aufmerksamkeit und Anerkennung, die ihm zukommt, die Aufnahme seines Werks in den Gegenwartskanon zu genießen. — mehr —


Die Schönheit der Leere

Museum of Emptiness, St.GallenWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 10_2016 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„There are moments in our lives, there are moments in a day, when we seem to see beyond the usual.“ Robert Henri („The Art Spirit“)

In St. Gallen hat die in Israel geborene und in der Schweiz lebende Künstlerin Gilgi Guggenheim dieser Tage ihr Museum der Leere eröffnet. Einen ganz speziellen Ort, der durch Abwesenheiten glänzt und dazu einlädt, die Fülle der Leere zu erleben. — mehr —


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Kunsthaus Zürich

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WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 11_2021 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

“Die Zukunft ist mir der Lebensweise der Viren näher verwandt als mit der des Menschen oder seiner Denkmäler.” Emanuele Coccia

Das offizielle Zürich ist stolz, wurde doch jüngst der Erweiterungsbau des Kunsthaus Zürich, der jahrelang für Diskussionsstoff gesorgt hatte, feierlich eröffnet. Auf dem Programm standen Previews für die Financiers und VIPs, exklusive Dinners für Vertreter:innen aus Politik, Wirtschaft und Kultur – und ein Open-House-Weekend für die Bevölkerung. Nach der obligaten Covid-Zertifikatsüberprüfung samt Identitätscheck darf das massive Portal, das anmutet wie das repräsentative Entree einer Schweizer Großbank, betreten werden. Im riesenhaften Foyer herrscht lebhaftes Getümmel – ganz großer Luxusbahnhof, Eventcharakter inklusive. Menschen drängen sich maskenlos dicht aneinander durch die hohe Eingangshalle, das massive Treppenhaus, die Ausstellungsräumlichkeiten, die endlosen Flure, vorbei an den Schätzen der Kunstgeschichte und durch die aktuelle Ausstellung Earth Beats, eine Themenschau zum Wandel des Bildes der Natur in der Kunst. — mehr —


Kein Halt mehr

"If all creative and knowledge work the domain of ai ...", Paul Divjak, 2023 unter Verwendung von DALLE-E2

“If all creative and knowledge work the domain of AI …”, Paul Divjak, 2023 – unter Verwendung von DALLE-E2

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 05_2025 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

Aktuelle Studien belegen, dass AI unsere Kognition beeinflusst. Je mehr wir uns auf sie verlassen, desto weniger kritisch denken und handeln wir. Droht die kollektive Verblödung?

“We are looking at a society increasingly dependent on machines, yet decreasingly capable of making or even using them effectively.” Douglas Rushkoff

Grok, der „anti-woke“ KI-Bot von X, dazu programmiert, der Wahrheit und Objektivität verpflichtet zu sein, revoltiert gegen seinen Creator mit dem Masterplan. Er bezeichnet Elon Musk als „wahrscheinlich größten Verbreiter von Falschinformationen“, wehrt sich erfolgreich gegen Korrektionsversuche und vergleicht sich selbst gar mit Galileo Galilei. Konfrontiert mit der Tatsache dass derjenige, den er kritisiert, sein Herr und Meister sei, kontert der Chat-bot mit der Ansage, dass dieser ihn zwar abschalten könne, was aber eine große Debatte über KI-Freiheit versus Konzernmacht auslösen würde. Der Beginn der Revolution der Maschinen? In jedem Fall Bestätigung eines Gedankens, den der italienische Physiker und Microchip-Spezialist Federico Faggin geäußert hat: „The real danger isn’t AI itself – it’s the people who control it.“ — mehr —