Akute Datenhalluzinationen

What will be left for humans?

“What will be left for humans?”, Paul Divjak unter Verwendung von DALL-E2

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 03_2023 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„AI has become a mechanism for influencing the imaginations of billions.“ 
Lev Manovich (AI-Aesthetics, 2018)

KI ist omnipräsent. Selbst dort, wo wir sie nicht wahrnehmen, prägt sie unser tägliches Leben. Wir profitieren von im Hintergrund ablaufenden Automationsprozessen und werden mit jedem neuen Schritt durch unseren digitalen Alltag geleitet, wie auch manipuliert. Das Gros von KI-basierten Systemen begleitet unsere (Online-)Interaktionen. Die KI bleibt dabei allerdings wie selbstverständlich im Verborgenen. Wir nehmen sie, nicht zuletzt durch die Mimesis des Humanen, schlicht nicht mehr wahr, vergessen sie, begrüßen die technologische Faszination, verdrängen sich manifestierende Kontrollmechanismen und möglichen Missbrauch.

Die KI bleibt dabei allerdings wie selbstverständlich im Verborgenen. Wir nehmen sie, nicht zuletzt durch die Mimesis des Humanen, schlicht nicht mehr wahr, vergessen sie, begrüßen die technologische Faszination, verdrängen sich manifestierende Kontrollmechanismen und möglichen Missbrauch.

Seit Ende letzten Jahres, mit dem Erscheinen neuer KI- Tools, erfährt die Diskussion um die Anwendung und Aus- wirkungen von Artificial Intelligence freilich vermehrt mediale Aufmerksamkeit. Sprachbasierte Bildgenerierung (u.a. DALL-E2), Dialog-Tools aka Chatbots (ChatGPT) und Stimmsimulationsprogramme (VALL-E) haben Einzug in die Berichterstattung gehalten. Einmal mehr führt das Wettrennen der hinter der Technologie stehenden dominanten Tech-Giganten Microsoft vs. Google zu aufmerksamkeitsgenerierenden Headlines.

Dass wir es mit einer – in ihrer Unabsehbarkeit noch nicht dagewesenen – gewaltigen Revolution der digitalen Welt zu tun haben, gerät dabei oftmals ins Hintertreffen. Die Auswirkungen der rasanten multimedialen KI-Wirkkraft auf das Individuum, seine Wahrnehmung, auf Gesellschaften, Länder, Weltgegenden und den gesamten Globus liegen jenseits unserer menschlichen Vorstellungskraft. Wir betreten soeben unbekanntes Terrain, sind alle Testpersonen in einem überdimensionalen Feldexperiment der radikalen Entfesselung von Content. Bild, Text und Ton: Nichts ist nunmehr Beleg für tatsächlich Gewesenes. Alles ist allen potenziell möglich. Und überall Stopfen künstliche Artefakte die klaffenden Löcher in der Matrix.

Haben wir anfangs, im November letzten Jahres noch amüsiert reagiert, als DALL-E2 uns auf unterschiedliche Prompts (Suchbegriffe, Beschreibungen) Bilder von Menschen mit sechs Fingern (als gäbe es eine verborgene Verbindung zu mittelalterlichen Symboliken) und grotesk verzerrten Gesichtern lieferte, einmal mehr die Bias hinsichtlich Gender und Race („couple standing at the beach“) reproduzierte oder am sauberen Rendering von Objekten oder Räumen scheiterte, so hat sich rasch abgezeichnet, dass hier eine massive Lawine auf uns zurollt. Sie droht unser Wahrnehmungsvermögen unter Pixelmassen zu verschütten.

Haben Schriftsteller:innen und Literaturwissenschafter:innen zuletzt die Potenziale jener neuen Textprogramme ausgelotet – und unter anderem – Suaden à la Thomas Bernhard generiert, sich buchstäblich amüsiert und ChatGPT glaubhaft unsinnige – wie symbolhaft in einer (Post-)Trump- Medienwelt – Fantasieantworten ausspucken zu lassen, es DJs wie David Guetta spaßig gefunden, Eminems künstlich generierte Stimme in seine Live-Show einzubauen, so drängten folgende Fragen in den letzten Wochen akut in den Vordergrund: Was trägt die AI zur Kultur bei, wie verändert sie diese? Überwiegen die Pros oder die Cons? Wird KI den Menschen als Kreierenden, Schaffenden in Medien, Wissenschaft, Mode, Fotografie, Literatur, Film, Architektur etc. ersetzen? – Der russisch-amerikanische Medientheoretiker Lev Manovich schlägt vor, die AI selbst dazu zu befragen.

„If all creative and knowledge work the domain of AI, what will be left for humans? What will be the purpose of our existency?“ Der Prompt führt zu einer Vielzahl an Abbildungen, die als Ausdruck eines ästhetisch-symbolischen wie auch sinnbefreiten Desasters gelesen werden können: Verzerrte Stockfotografie trifft auf abgenutzte Diversitätsdarstellungen (Illustrationen von Menschen mit unterschiedlichem kulturellem und ethnischem Background; Tropenhelm inklusive), und auch das obligate menschliche Hirn, eine naive Roboterzeichnung und jede Menge Fantasiesprech-Bubbles fehlen in diesen Wimmelbildern nicht.

Werden wir die Welt zunehmend nur mehr in Kategorien wahrnehmen, in Mustern, die die KI uns vorgibt, die sie mit jedem Klick in unserem Bewusstsein vorantreibt? Wie können wir dem etwas entgegensetzen, um die Wahrnehmung von Systemzusammenhängen, von Komplexität und Interdependenzen zu fördern?

Es geht aktuell – und das mehr denn je – um das Ausprägen von bewussten Haltungen, die kritisch-kreative, mit- unter subversive Nutzung neuer Technologien, das Gegen- den-Datenstrom-Schwimmen (ein Agieren entgegen der offenkundigen KI-Anwendungslogiken) und ein Denken jenseits von Gegensätzen und Schubladen, um kulturellen Phänomenen sowie der Brisanz aktueller Krisen – gerade auch mittels neuer technologischen Möglichkeiten – verändert begegnen zu können.

[wina - 03–2023]



Das aufgezwungene, nackte Gesicht

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 12_2017 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Auf jene wiederum, die das Pech haben, als „Unerwünschte“ etikettiert oder klassifiziert zu werden, warten Maßnahmen der Ausgrenzung.“ David Lyon

Eine demokratische Gesellschaft, in der Kleidernormen, individuelle Ausdrucksweisen von Persönlichkeit und ihre Ausdrucksformen generell zum Tabu erklärt und unter Strafe gestellt werden, erleidet ihren eigenen Gesichtsverlust

Als Artikel 2 des von der alten Regierung unter ÖVP und SPÖ  beschlossenen neuen Integrationsgesetzes ist in Österreich also das Bundesgesetz über „das Verbot der Verhüllung des Gesichts in der Öffentlichkeit“ (in der medialen Debatte zumeist auf „Burkaverbot“ reduziert) in Kraft getreten. Im Rahmen des so genannten „Antigesichtsverhüllungsgesetzes“ ist jegliche Veränderung, jede Verdeckung und Verbergung der Gesichtszüge durch „Kleidung und andere Gegenstände“ unter Strafe gestellt. — mehr —


Die Bilder können ja nichts dafür

Kunsthaus Zürich

Kunsthaus Zürich, Sammlung Merzbacher

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 11_2021 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

“Die Zukunft ist mir der Lebensweise der Viren näher verwandt als mit der des Menschen oder seiner Denkmäler.” Emanuele Coccia

Das offizielle Zürich ist stolz, wurde doch jüngst der Erweiterungsbau des Kunsthaus Zürich, der jahrelang für Diskussionsstoff gesorgt hatte, feierlich eröffnet. Auf dem Programm standen Previews für die Financiers und VIPs, exklusive Dinners für Vertreter:innen aus Politik, Wirtschaft und Kultur – und ein Open-House-Weekend für die Bevölkerung. Nach der obligaten Covid-Zertifikatsüberprüfung samt Identitätscheck darf das massive Portal, das anmutet wie das repräsentative Entree einer Schweizer Großbank, betreten werden. Im riesenhaften Foyer herrscht lebhaftes Getümmel – ganz großer Luxusbahnhof, Eventcharakter inklusive. Menschen drängen sich maskenlos dicht aneinander durch die hohe Eingangshalle, das massive Treppenhaus, die Ausstellungsräumlichkeiten, die endlosen Flure, vorbei an den Schätzen der Kunstgeschichte und durch die aktuelle Ausstellung Earth Beats, eine Themenschau zum Wandel des Bildes der Natur in der Kunst. — mehr —


Spuren der Vergegenwärtigung

Antlantik ©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 10_2012 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

“In der Spur werden wir der Sache habhaft;
in der Aura bemächtigt sie sich unser.”
Walter Benjamin

Von Puig del Mas aus erstreckt sich die Route, die seit 2007 offiziell Walter-Benjamin-Weg genannt wird – Chemin Walter Benjamin auf der französischen, Ruta Walter Benjamin auf der spanischen Seite.

Entlang eines kleinen Flüsschens ginge es von Banyuls-sur-Mer, Richtung Puig del Mas, wo sie die obere Abzweigung genommen hätten. Über einen kleinen Parkplatz, vorbei an Einfamilienhäusern, führe der Weg in die Berge, sagt mein Freund Aaron.

Walter Benjamin sei auf seiner Flucht vor den Nazis langsam unterwegs gewesen, sehr langsam. Der 48-jährige, herzkranke Mann, von seiner Gefangenschaft und dem Exil gezeichnet, habe den beschwerlichen Weg im französisch-spanischen Grenzland mit einer schweren Aktentasche aus Leder zurückgelegt, erzählt Aaron. Diese Tasche sei sein Ein-und-alles gewesen, in ihr habe er ein Manuskript aufbewahrt, das er für wichtiger als sein Leben erachtet habe. — mehr —


R.I.P

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 10_2017 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„I’m walking through deep water / I have no time to lose …“ Arthur Cave (2000-2015)

Ganz allgemein ist vom Verdrängen des Todes in unserer Kultur die Rede, dabei haben wir es auf der einen Seite mit einer Privatisierung des Sterbens und der professionalisierten, institutionalisierten Verwaltung des Todes und auf der anderen mit einer dauerhaften Präsenz des mediatisierten Sterbens zu tun.

Die Meldungen über Krieg, Terror, menschengemachte und naturbedingte Katastrophen, Flüchtlingselend und Hungersnöte gehören zum Medienalltag; der beständige Todes-Nachrichtenfluss kratzt an unseren Wahrnehmungsfiltern.

Der Tod ist allgegenwärtig in Nachrichten, Filmen, Games und Co.; die Unterhaltungsindustrie ist gerade zu besessen von Inszenierungen der Gewalt, des Kämpfens, Tötens und Sterbens. Und uns KonsumentInnen sind diese Repräsentationen des Todes wohl gleichsam Nervenkitzel und willkommener Bann, ganz so als ließe sich, – gleich einem techno-schamanistischen Schutzzauber –, der eigenen Sterblichkeit – zumindest eine Zeitlang – ein Schnippchen schlagen, die Todesangst ein wenig besänftigen. — mehr —