GLEICHZEITIGKEITEN

Morteratschgletscher, Winter 2022 ©Paul Divjak

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 03_2022 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Das Virus an sich offenbart eine Welt, die seit langem schon die Wirren eines tiefgreifenden Wandels verspürt.“ Jean-Luc Nancy

Wir stapfen durch das tiefverschneite Schweizer Gletschertal auf über 2.400 Höhenmetern; die Sonne scheint, vereinzelt zwitschern Vögel. Entlang der Route finden sich Wegmarken, die den Rückgang des größten Alpengletschers in der Berninergruppe im Kanton Graubünden dokumentieren: 1920, 1950, 1970, 1980, und dann in immer kürzeren Abständen bis zum Jahr 2015. Warnhinweise machen auf die Gefahr von zunehmendem Steinschlag aufgrund der Gletscherschmelze aufmerksam, und kurz darauf stehen wir auch schon vor der beeindruckenden Gletscherzunge des Morteratschgletschers. Wie ein verwundetes Wesen liegen die mächtigen blauschimmernden Eisschichten vor uns. Der Gletscher scheint weh zu klagen; deutlich ist ein auf- und abschwellendes leises Rauschen hörbar. Die gigantische Dimension der Bedrohung wird unmittelbar spürbar – so ganz anders als durch die abstrahierende Betrachtung via vergleichender Fotografien und Satellitenbildern.

Und abends dann verkünden die Nachrichten, dass ehemalige Politikerdarsteller sich nun zur Gänze dem libertären Denken und Handeln widmen werden, von dem ihre selbstherrliche Regierungsarbeit bereits geprägt war.

Interessegeleitetes, unverantwortliches und kurzfristiges, rein imageorientiertes Agieren hat – gerade in Zeiten wie diesen – zur Aushöhlung demokratischer Werte, zu Polarisierung und Prägung von Ohnmachtsgefühlen beigetragen; der Mangel an sozialer, gemeinwohlunterstützender und klimaspezifischer politischer Verantwortung ist offensichtlich geworden.

Wie auch immer und wann auch immer die Pandemie zur Endemie geworden sein mag, die nicht mehr verkennbaren ökologischen Probleme werden sich nicht durch aktuelle Ablenkungsmanöver und boomendes Greenwashing und so genannte „klimapositive“ Produkte lösen lassen. Die Legende vom grenzenlosen Wachstum ist in ihren Grundfesten erschüttert, die „Rhythmen des weltumspannenden Warenverkehrs“ (Nancy) sind nicht zuletzt durch die Virulenz der Geschehnisse der letzten zwei Jahre ganz offensichtlich ins Taumeln geraten: die omnipräsente Spike-Protein-Bedrohung führt uns unser aller Endlichkeit und Ohnmacht überdeutlich vor Augen.

Scheinbar vom Menschen Kontrollierbares ist völlig außer Kontrolle geraten, Ordnungssysteme sind erschüttert, krude, stigmatisierende und menschenverachtende Erklärungsmodelle füllen die Lücken des Nicht-mehr-Begreifbaren. Die Wahrnehmung der Welt ist auf den Kopf gestellt. Die Gleichzeitigkeit von rückschrittlichem wie avanciertem Agieren zeigt sich unter anderem in paradoxen politischen Entscheidungen: während sich Deutschland von der Atomkraft verabschiedet, wird ein paar hundert Kilometer weiter östlich, in Polen, auf den Auf- und Ausbau ebendieser Energiegewinnung gesetzt. Die EU propagiert Erdgas wie Atomkraft als „grüne Energie“; nachhaltiger Backlash.

Und bei aller Kritik hinsichtlich Datenmissbrauch, sozialer Ausbeutung, Destablisierung von fragilen politischen Gleichgewichten und Taktiken der Steuervermeidung findet weiterhin eine perfide Heroisierung von Tech-Monopolisten statt. Diejenigen, die am meisten von den multiplen Krisen profitieren, werden als Role-Models gefeiert. Alle Welt ist begeistert von den Spleens der kalifornischen Big-Data-Profiteure und Weltraum-als-Fluchtpunkt-Akteure und träumt von Silicon Valley als Start-up-Blaupause.
Gegenwartserfahrung bedeutet mehr denn je die Bekanntschaft mit Angst und den Umgang mit ihr und dem Unbekannten sowie dem Nicht-Wissen. Gegenwärtig ist alles gleichzeitig präsent und vieles wäre (noch) möglich, und doch liegen das Gros der mondialen Geschehnisse, die wechselseitigen Wirkungen und Abhängigkeiten außerhalb unseres Blickfeldes. Unterdessen prasseln die aktuellen News, die Bilder und Kommentare in der Wiederholung auf uns ein; und täglich grüßt das Murmeltier.

Wir werden uns – soweit wir dies vorhersehen und planen können – auch im kommenden Winter wieder auf den Weg zum Morteratschgletscher machen. Und auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen: Seine Zunge wird sich dann weiter zurückgezogen haben. Die Klimakatastrophe ist kein Zukunftsthema – sie ist längst Realität. Die Initiative Mort Alive, die Himalaya-Technologie nutzt, um die abfließende Gletschermilch in eisschützenden Schnee zu verwandeln, will das Abschmelzen des Gletschers um 40 Jahre (!) hinauszögern. Dieses ambitionierte Projekt wird von der Graubündner Kantonalbank unterstützt und sucht mit Gletscherkonzerten nach Spender:innen. – Viva!

[wina - 03–2022]



Die Schönheit der Leere

Museum of Emptiness, St.GallenWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 10_2016 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„There are moments in our lives, there are moments in a day, when we seem to see beyond the usual.“ Robert Henri („The Art Spirit“)

In St. Gallen hat die in Israel geborene und in der Schweiz lebende Künstlerin Gilgi Guggenheim dieser Tage ihr Museum der Leere eröffnet. Einen ganz speziellen Ort, der durch Abwesenheiten glänzt und dazu einlädt, die Fülle der Leere zu erleben. — mehr —


Hier ist ein Mensch, öffne die Tür

רימונים ©Paul Divjak

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 05_2021 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

»Wo sind plötzlich alle hin?
Alles weicht zurück und verschwindet
Nur die Worte schweben noch
Wohin gehen wir von hier aus, wohin?«
Avi Bellieli (Titellied „Shtisel“)

In Zeiten, in denen die Kinos seit Monaten geschlossen sind, wird mitunter der Bildschirm zur Leinwand. Die Spielfreude der Akteur*innen von Shtisel überträgt sich, die Figuren nehmen uns mit, wir tauchen ein in die Weltvermittlung sozialer Strukturen, historisch geformter Riten und Traditionen. Identitäten werden in der Gemeinschaft geformt und stehen doch immer wieder aufs Neue in Frage, sie geben Halt und lassen taumeln. Im Raster des Gesetzes der Gemeinde erfährt der/die Einzelne ambivalente Gefühle. Die humorvolle Zeichnung der eng abgesteckten Lebenswelten bildet den Rahmen, innerhalb dessen sich die Familiendarstellung bewegt und Sinnfragen gestellt werden. — mehr —


Der Besuch der alten Dame

"Gustav Klimt" ©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 3_2015 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

Eine Frau geht ihren Weg. Hell leuchtet ihr das symbolische Licht der Gerechtigkeit entgegen. Hinter ihr und ihrem Begleiter zeichnen sich die Schatten der Vergangenheit ab: Hollywood erzählt den Rechtsstreit Maria Altmann vs. Republik Österreich. — mehr —


Sommernormalität in Warschau

POLIN - Museum of the History of Polish Jews ©Paul Divjak

POLIN – Museum of the History of Polish Jews

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 08_2021 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

»I’m passionately involved in life; I love its change, its color, its movement.
To be alive, to be able to see, to walk, to have houses, music, paintings – it’s all a miracle.« Arthur Rubinstein

Wir sitzen im Speisewagen nach Warschau und verkosten uns durch die Speisekarte. Es gibt polnisches Frühstück, dann griechischen Salat, später Piroggen, Apfelspalten und viel Kaffee. Die Landschaft zieht vorbei. In der Ferne entdecken wir in der tschechischen Ebene scheinbar verlassene, karge, gerüstartige Siedlungen, immer mehr. Der nähere Blick zeigt: Es handelt sich um Dörfer, die der Juni-Tornado verwüstet hat. Ganze Landstriche sind betroffen; zerdrückte, umgekippte Autos, geknickte Bäume, abgedeckte Häuser. Bagger bearbeiten Berge von Müll und Hausrat. Freiliegende Dachstühle werden repariert, die Feuerwehr ist im Einsatz, Menschen sind in verwüsteten Weingärten zugange. Dann mit einem Mal ist der Spuk unvermittelt vorbei; Wiesen, Felder, Wälder. — mehr —