R.I.P

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 10_2017 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„I’m walking through deep water / I have no time to lose …“ Arthur Cave (2000-2015)

Ganz allgemein ist vom Verdrängen des Todes in unserer Kultur die Rede, dabei haben wir es auf der einen Seite mit einer Privatisierung des Sterbens und der professionalisierten, institutionalisierten Verwaltung des Todes und auf der anderen mit einer dauerhaften Präsenz des mediatisierten Sterbens zu tun.

Die Meldungen über Krieg, Terror, menschengemachte und naturbedingte Katastrophen, Flüchtlingselend und Hungersnöte gehören zum Medienalltag; der beständige Todes-Nachrichtenfluss kratzt an unseren Wahrnehmungsfiltern.

Der Tod ist allgegenwärtig in Nachrichten, Filmen, Games und Co.; die Unterhaltungsindustrie ist gerade zu besessen von Inszenierungen der Gewalt, des Kämpfens, Tötens und Sterbens. Und uns KonsumentInnen sind diese Repräsentationen des Todes wohl gleichsam Nervenkitzel und willkommener Bann, ganz so als ließe sich, – gleich einem techno-schamanistischen Schutzzauber –, der eigenen Sterblichkeit – zumindest eine Zeitlang – ein Schnippchen schlagen, die Todesangst ein wenig besänftigen.

Die Verhandlung der Todesfälle von Personen des öffentlichen Interesses, im Rahmen derer Fantum, Weltschmerz und individuelle Todesangst im Web 2.0 in bisher nicht gekannten Ausmaßen an Projektionen auf eine populäre Persona rückgebunden werden, erzählt von der popkulturell durchtränkten Handhabe im Umgang mit dem factum brutum in unserer Medienkultur. (In der freilich auch der einstmals bewährte Faktor des „Einen-Namen-Habens“ nicht ein dauerhaft Im-kollektivierten-Gedächtnis-Verankertsein garantiert und vor dem ewigen Vergessenwerden schützt.)

Prominente Todesfälle beschäftigen die Massen. Das Sterben von VIPs generiert im Netz resonanzfähige Kulturmuster von Betroffenheitsaffekten und Trauereffekten. So ist etwa das Jahr 2016 als Pop-Sterbensjahr, in dem u.a. Prince, David Bowie und George Michael, – wie eine Redensart seit dem 17. Jahrhundert besagt – das Zeitliche gesegnet haben, in die Historie des Netzzeitalters eingegangen und hat weitere Streiflichter auf Memebildungen, die R.I.P-Kultur und Konsens-Trauerbekundung im kulturellen Resonanzfeld geworfen.

Fehlen die Worte, ist die in der christlichen Bestattungskultur gerne verwendete, auch im Hebräischen und Aramäischen auftauchende Abkürzung für Requiescat in Pace rasch getippt: R.I.P. Das als Grabinschrift und auf Totenzetteln verwendete Epitaph, das für den Verstorbenen ein ewiges Ruhen in Frieden erbittet, führt heute abgekoppelt von Glauben und religiösen Überzeugungen ein digitales Eigenleben als populäres thanatosspezifisches Netzjargonkürzel.

Anders der Einbruch des Realen im persönlichen Umfeld, die Plötzlichkeit mit der ein Lebensende sich in den Newsfeed, die eigene Timeline einschreibt. Das Unfassbare im Nachrichtenstrom der Unterhaltung und Distraktion lassen einen gerade Verstorbenen in seiner Abwesenheit schmerzhaft anwesend sein. Die Präsenz nimmt im Umfeld von mehr oder weniger banalen Statusmeldungen einen ganz besonderen Stellenwert ein: Sie konfrontiert unmittelbar mit dem Nichts, der gähnenden Leere angesichts des Todes (angesichts dessen alles andere lächerlich ist, wie Thomas Bernhard einmal festgestellt hat).

Vor dem Hintergrund der zunehmenden Säkularisierung prägen Irritation und Unsicherheit den Umgang mit dem Tod. Es entstehen aber auch neue Mischformen von On- und Offline-Kommunikation und -Interaktion hinsichtlich Sepulkral- und Memorialkultur; die Gesellschaft befindet sich auch in Bezug auf den Umgang mit dem Tod fortwährend im Wandel: In der digitalen Diaspora ermöglicht das WWW neue Möglichkeiten des sozialen Zusammenfindens, des (virtuellen) Zusammenrückens in einer Lebensweltordnung der sozialen Zerklüftung, des drohenden Auseinanderdriftens von Gemeinschaft.

[wina - 10.2017]



Die Bilder können ja nichts dafür

Kunsthaus Zürich

Kunsthaus Zürich, Sammlung Merzbacher

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 11_2021 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

“Die Zukunft ist mir der Lebensweise der Viren näher verwandt als mit der des Menschen oder seiner Denkmäler.” (Emanuele Coccia)

Das offizielle Zürich ist stolz, wurde doch jüngst der Erweiterungsbau des Kunsthaus Zürich, der jahrelang für Diskussionsstoff gesorgt hatte, feierlich eröffnet. Auf dem Programm standen Previews für die Financiers und VIPs, exklusive Dinners für Vertreter:innen aus Politik, Wirtschaft und Kultur – und ein Open-House-Weekend für die Bevölkerung. Nach der obligaten Covid-Zertifikatsüberprüfung samt Identitätscheck darf das massive Portal, das anmutet wie das repräsentative Entree einer Schweizer Großbank, betreten werden. Im riesenhaften Foyer herrscht lebhaftes Getümmel – ganz großer Luxusbahnhof, Eventcharakter inklusive. Menschen drängen sich maskenlos dicht aneinander durch die hohe Eingangshalle, das massive Treppenhaus, die Ausstellungsräumlichkeiten, die endlosen Flure, vorbei an den Schätzen der Kunstgeschichte und durch die aktuelle Ausstellung Earth Beats, eine Themenschau zum Wandel des Bildes der Natur in der Kunst. — mehr —


GLEICHZEITIGKEITEN

Morteratschgletscher, Winter 2022 ©Paul Divjak

Morteratschgletscher/Engadin, Winter 2022

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 03_2022 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Das Virus an sich offenbart eine Welt, die seit langem schon die Wirren eines tiefgreifenden Wandels verspürt.“ Jean-Luc Nancy

Wir stapfen durch das tiefverschneite Schweizer Gletschertal auf über 2.400 Höhenmetern; die Sonne scheint, vereinzelt zwitschern Vögel. Entlang der Route finden sich Wegmarken, die den Rückgang des größten Alpengletschers in der Berninergruppe im Kanton Graubünden dokumentieren: 1920, 1950, 1970, 1980, und dann in immer kürzeren Abständen bis zum Jahr 2015. Warnhinweise machen auf die Gefahr von zunehmendem Steinschlag aufgrund der Gletscherschmelze aufmerksam, und kurz darauf stehen wir auch schon vor der beeindruckenden Gletscherzunge des Morteratschgletschers. Wie ein verwundetes Wesen liegen die mächtigen blauschimmernden Eisschichten vor uns. Der Gletscher scheint weh zu klagen; deutlich ist ein auf- und abschwellendes leises Rauschen hörbar. Die gigantische Dimension der Bedrohung wird unmittelbar spürbar – so ganz anders als durch die abstrahierende Betrachtung via vergleichender Fotografien und Satellitenbildern. — mehr —


Alles bleibt wie´s ist

"Breaking News / Amnesia" ©Paul Divjak

“Breaking News / Amnesia” ©Paul Divjak

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 10_2019 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein!“ Kurt Tucholsky

Sie fordern unsere Aufmerksamkeit, wollen unsere Stimmen, um sich dann weiter in unnötigen Animositäten und Machtkämpfen zu verzetteln, Angst in Bezug auf Verteilungsgerechtigkeit und die Zukunft zu kreieren und geeintes Handeln in Bezug auf dringlichste, die Menschheit herausfordernden Thematiken zu verunmöglichen. Diese nicht enden wollende Polit-Nonsens-Show auf allen Kanälen ist unerträglich. — mehr —


Was für ein Anachronismus!

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 03_2018 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Der Nationalismus ist eine Ideologie, die einen Feind braucht; er kann ohne ein anderes, gegen das er sich stellt, nicht existieren, wer oder was auch immer dieses andere sein mag.“ Slavenka Drakulic

Die mediale Landschaft wird aktuell von politischer Seite mit groben Werkzeugen bearbeitet, radikalisierte Rückgriffe und sprachliche Übergriffe garantieren Aufmerksamkeitseffekte und das erwünschte Agenda-Setting.

Was aktuell Form angenommen hat, ist ein offener Kampf um die Konstruktion der Deutungshoheit. Rechtspopulistische und extreme Schachzüge, die auf unsere bewusste und unbewusste Sicht auf die Wirklichkeit einwirken, versuchen, Alltag und Staat nach einem bestimmten Wertemuster zu organisieren. Und es ist keine Frage: Das ihnen zugrundeliegende Modell ist ein ewig gestriges. — mehr —