Das war Pop

Thomas Edlinger: Über Pop und Paul Divjak

Einleitung anlässlich der Buchpräsentation im Literaturhaus Wien, 21.3.2014

Vorgestern Abend bekam ich ein E-Mail mit einer Ankündigung einer Kunstaktion am Wiener Heldenlatz – es ging um eine temporäre Schriftinstallation – am Wiener Heldenplatz wurden im März letzten Jahres Gras-Samen mit der Aufschrift Schalom gesät, nun wird Ende März eine Ausstellung eröffnet, die das Wachstum dieser Saat auf dem Platz dokumentiert. Einer der Projektbetreiber heißt Paul Divjak – hier in seiner Funktion als bildender Künstler.

Das letzte Mal habe ich Paul nicht als Bildenden Künstler, sondern als Konzept-Popmusiker erlebt – gemeinsam mit Wolfgang Schlögl, selbst ein umtriebiger Musiker, verantwortet er als Team Tool Time das Album Bee Pop – ein abwechslungsreicher Techno-Ambient Soundtrack, basierend auf den Sounds, die Bienen gerieren. Paul Divjak, man muss es so sagen, ist ein sehr neugieriger Mensch, der sich weder auf Medien noch auf Formen und auf Inhalte festlegen lässt.

Was das alles mit Schreiben zu tun hat? Über Umwege hat es zum Beispiel damit zu tun, dass ich die Ehre hatte, mit Paul vor ca. 2-3 Jahren eine Zeit lang eine kleine Kolumne im Standard zu befüllen, der Gemischte Satz hieß sie. Dazu trafen wir uns immer wieder wöchentlich in einem Café und redeten so lange, bis wir Themen für die dialogisch strukturierte Kolumne hatten. Das ging ganz leicht, denn Paul ist immer voller Ideen – und er macht so viel Verschiedenes, dass ich gar nicht weiß, was er eigentlich nicht macht. Literat, Elektronik-Musik, Bildende Kunst, Fotografie. Dazu entwickelt er Düfte und publiziert Kolumnen oder seine Diss über performative Rauminszenierungen und macht Theaterarbeiten.

Es muss 2011 gewesen sein, da bereitete er unter anderem eine Teilnahme an einer Ausstellung in Prag vor. Das Ganze fand anlässlich der Prager Kunst-Quadriennale statt – Besucher konnten sich Kleider ausborgen und in diesen Maskeraden in die einzelnen Pavillons gehen. Der Titel des Kostümverleihs war typisch Paul: Paul´s Boutique, das war auch eine Anspielung auf ein berühmtes Album der New Yorker Hip Hop-Formation Beastie Boys. Pop und Paul Divjak – das ist eine längere Liebesgeschichte. Paul macht nicht nur diverse Musikprojekte, er betätigt sich auch als DJ und – was eher ungewöhnlich ist als BJ – also als jemand, der – gemeinsam mit dem Standard-Musikkritiker Christian Schachinger – Exzerpte aus Büchern so vorliest, wie DJs Sequenzen aus Tracks vorspielen. – Das Ganze wird dann, wie bei einem DJ-Abend, zu etwas Drittem; Neuem – einem Textfluss, der Gedanken wie Samples behandelt, sie aufeinanderprallen oder eben ineinander übergehen lässt, je nachdem – es gibt harte Schnitte – genauso wie fließende Übergange. Kann man daraus etwas für das Schreiben an sich lernen? Wahrscheinlich schon.

Am Ende des neuen Buchs von Paul Divjak werden die Bestandteile eines solchen BJ-Abends wie als Quellenverzeichnis offengelegt – es sind Bücher zwischen Cultural Studies, Journalismus, Biografismus und Popliteratur. Sie alle strahlen das Buch, um das es heute Abend gehen soll, sozusagen nochmals von hinten an: „Das war Pop“ heißt es.

Das war Pop? Reiht sich das ein in die vielen Abgesänge auf Pop, die ebenso oft sinngemäß mit dem Bonmot „Pop ist gar nicht tot, aber er riecht schlecht“ beantwortet wurden? Fest steht, dass sich dieser Tage die Bücher mit einem rückwärtsgewandtem Blick auf die Geschichte der Popmusik häufen, die sich im Anschluss an den großen Retromania-Powerakkord von Simon Reynolds 2011 finden. Der SZ-Journalist und Radiomoderator Karl Bruckmair hat seinen, eben erschienen, quer durch die Jahrzehnte und Länder wuchernden Streifzug „The Story of Pop“ genannt. Diedrich Diederichsen, hat dieser Tage sein vielbeachtetes Opus Magnum vorgelegt – „Über Popmusik“ rekapituliert das erste halbe Jahrhundert Pop und wartet mit einer schlichen, aber steilen These auf: Popmusik, notiert ausgerechnet der als Pop-Papst verehrte Theoretiker scheinbar im Einklang mit den Klassiksnobs, sei im engen Sinn gar keine Musik. Denn ihr musikalischer Ausgangspunkt sei immer das verbrauchte und längst von der Avantgarde diskreditierte Material der Kulturindustrie gewesen. Die konstitutiv unreine Form Popmusik lebe aber seit den 1950er-Jahren vor allem von dem, was an ihr nicht Musik sei: Es geht im Pop also nicht zentrale um gute Melodien und Rhythmen, sondern um den ganzen riesigen Rest, um Images, Geräusche, Videos, TV-Auftritte, Spuren der Star-Persona, Performance, Stil und vor allem das, das der Fan mit all den unterschiedlichen Quellen macht, wie im Kopf all das verschaltet wird.
Das soziale Multimediatheater namens Popmusik bietet als kleinste Einheit nicht den Song oder den Track, sondern die Pose. In ihr sucht man als Fan nicht nur den „Style“, sondern auch etwas Ungeplantes, Echtes. Zum Beispiel den Aufruhr in den Augen von Johnny Rotten oder die Echtheit des Internet-Hypes Left Boy 2014. Popmusik beginnt für Diederichsen daher nicht mit dem Nachsingen einer Melodie, sondern vor dem Spiegel – in der Einübung eines Looks oder eines Tanzschritts. Popmusiksozialisierte, so sagt er es pointiert, würde man daran erkennen, dass sie bei einem Konzert sicher nicht wie manche Klassikhörer die Augen schließen würden.

Die Relevanz der Pose bzw. des Posierens war auch in der sogenannten Popliteratur immer entscheidend. Popliteratur zeichnete sich nicht dadurch aus, dass jemand ein paar Plattentitel als Motto vor jeden Kapitelanfang pappt oder die Protagonisten Musikanspielungen droppen lässt oder sonst sein Auskennertum oder seine biografische Verstricktheit in das Format Popmusik erkennen lässt – das wäre erstens sehr billig und zweitens heute auch kaum mehr ein Distinktionsmittel für irgend etwas – denn wer der unter 70-Jährigen ist heute nicht mehr „under the influence“ von Popmusik aufgewachsen, wer hat sich nicht durch gegen oder mit ihr sozialisiert? Das Kriterium von Popliteratur ist es wohl eher, dass sie diesem Posencharakter der Popmusik Rechnung trägt – dass sie der Ambivalenz zwischen radikaler, künstlicher Warenhaftigkeit ihrer Produkte und den Spuren ihrer Anschlüsse in das soziale, reale Leben von Protagonisten und Anhängern Rechnung trägt. Nervigere Popliteratur hat diese Faszination des Posenhaften immer zur schnöseligen Affektiertheit verkürzt – so wurde dann aus der Idee, über Popmusik die Frage an die Welt zu stellen, was sie von einem will und was man von ihr haben kann, oft ein öder Neuaufguss des Dandyismus. Man ekelt sich vor dem Geschmack der anderen und wandert, eskortiert durch Sprüche, Slogans und Hooklines wie in Watte durch die Welt. Alles so schön bunt hier? Eben nicht.

Ich bin mir nicht sicher, ob Paul in seinen früheren Büchern je so etwas wie Popliteratur im Sinn hatte – ich glaube, es ging ihm immer eher, Ausnahme wären kleinere erzählerische Einheiten und Kurzgeschichten, in den größeren, assoziativeren und experimentelleren Formen um eine nach allen Seiten hin offene Textsorte. Darin sollen andere, fremde Texte immer schon mitbedacht und mitgeschrieben werden – nicht nur als Quellen, Zitate, Referenzen und Einflüsse, sondern auch im Sinne einer Reflexion über das, was es überhaupt heißen könnte, ein Autor zu sein, nachdem der Autor schon so oft totgesagt wurde.

In „Das war Pop“ heißt es auch – ich zitiere:
„Pop ist tot, sagst du. Egal. Hauptsache rundherum alles so richtig echt. Und überhaupt.“

Da haben wir ihn wieder, diesen Widerspruch von Popmusik: zum einen ist sie tot, kaputtgemacht in tausend Casting Shows, keiner glaubt mehr an ihre gesellschaftsverändernde Kraft, an ihre Energie, an ein Potential, eine andere Welt vorstellbar zu machen. Sie erscheint eher als zentrale Belästigung der Welt, wie DD über die 99 % Musik sagt, die wir andauernd um uns hören. Andererseits suchen die Menschen den Soundtrack ihres eigenen Lebens, werden nostalgisch – „those were the days“. Woodstock. London 1976. Public Enemy in New York. Mein erster Rave. Mein erstes Festival. Meine eine erste Single. Meine erste MP3. Mein erstes Mal.

Ich weiß gar nicht, ob Paul Divjaks Buch „Das war Pop“ Popliteratur ist – das allein halte ich ihm schon zugute. Es nimmt mit Sicherheit keine affirmative, nostalgische Haltung zu Pop ein – Motto, das war früher einmal besser. Es wendet sich aber auch nicht einfach von ihm ab – es ist keine Abrechnung, wie man das im Richterdeutsch in der Literaturszene manchmal gern so sagt über Bücher, die meinen, alles richtig zu machen.

Es ist möglicherweise Popliteratur, weil es der Pose, dem Begehren nach der Anerkennung im Spiegel der anderen Rechnung trägt: „You got the look“ – darum geht es zunächst in den elliptischen Momentaufnahmen eines Lebens, von dem man nicht weiß, ob all die begeisterten und sich selbst zur Begeisterung anhaltenden Einträge über schicke Parties und Exzesse und Urlaube wirklich von einem Leben auf der Überholspur erzählen – oder nur die Unmöglichkeit und Unangemessenheit davon in Erinnerung rufen.

Kommt uns das bekannt vor? Vielleicht. Vielleicht kennen wir solche Sätze aus den sozialen Netzwerken, wo man nur auf „Gefällt mir“ klicken kann oder nicht und nur Freunde annehmen – jetzt oder später annehmen kann –, aber nicht auf „Gefällt mir nicht“ klicken kann und Freundschaftsanfragen ablehnen kann. Und hat man je von Feindschaftsanfragen gehört?

Auch das ist Popkultur: die Illusion einer Wabe, die uns alle verbindet, wenn wir nur ähnliche Waren mögen und kaufen. Paul Divjaks Buch erzählt von diesem Lebensgefühl und noch von viel mehr. Er macht das in parataktischen, verknappten und oft nur mehr rudimentären Hauptsätzen, interpunktiert von Popsongzitaten und Slogans und dem neuen globishen Soundtrack der nur mehr als cool parodierbaren Kommunikation. So viel sich-gut-fühlen-wollen kann nicht gut sein. Irgendwann, soviel darf man über dieses Buch verraten, wird die Feier des narzisstischen Selbst, das größer, besser, wichtiger, geiler als alle anderen ist, die seine Äußerungen bestätigen sollen, zum Blues werden. Irgendwann wird sich die Kehrseite des Wunsches nach Grandiosität zeigen – die Depression. Geboren aus der Einsicht, den Traum nicht leben zu können, sondern nur geträumt zu haben. Irgendwann macht jeder Club zu, irgendwann ist immer After Hour, irgendwann wird auch der heißeste Scheiß schal. Irgendwann ist immer Montag. Und, um im Popjargon zu bleiben: „I don’t like Mondays“.